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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Gercke
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könnte? Also, zuerst Belle de Mai und dann würde sie weitersehen.
    Das Haus, in dem Nini und ihre Familie gelebt hatten, gab es nicht mehr. An seiner Stelle stand ein Supermarché, auch nicht mehr neu und ziemlich heruntergekommen. Sie setzten sich auf eine Bank dem Eingang gegenüber und beobachteten die Menschen, die drüben ein und aus gingen.
    So einen Laden hatten wir nicht, sagte Nini nach einer Weile, aber die Leute sahen so aus wie die da drüben. Vielleichtnicht so viele Afrikaner, aber Griechen, Italiener, arme Leute, so wie wir damals.
    Bella beobachtete eine junge Frau, hochschwanger, mit einem Kleinkind in der Kinderkarre und einem Dreijährigen an der Hand.
    Das war genau das, was ich nicht wollte, sagte Nini neben ihr. Damals standen die an den Maschinen, bis es so weit war. Die Würmer, die dann geboren wurden, hatten Glück, wenn sie überlebten. Es gab viele Frühgeburten, die schafften es sowieso nicht. Damit hat er mich gekriegt, mein Roberto.
    Womit?
    Na ja, er hat mir erzählt, von ihm bekämen Frauen keine Kinder.
    War das ein Trick?
    Na ja, es war vielleicht ein Trick, aber bei mir hat’s gestimmt. Und auch bei den beiden anderen, die er auf die Insel geschleppt hat.
    Die Schwangere drüben war stehen geblieben und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Eine ältere Frau stellte sich neben sie und sprach sie an. Die Schwangere antwortete, aber ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie nicht bei der Sache war. Sie war in Gedanken sehr weit weg, so weit, dass sie den Dreijährigen nicht spürte, der an ihrer Hand zog. Bestimmt nahm sie auch die Menschen nicht wahr, die in den Laden gingen oder herauskamen und denen sie mit ihrer Karre den Weg versperrte.
    Was ist los mit ihr?, fragte Bella.
    Was soll sein, antwortete Nini. Sie überlegt, wie viel Geld sie noch in der Tasche hat.
    In diesem Augenblick ging die Schwangere ganz langsam in die Knie. Ihre Hände ließen den Griff der Kinderkarre nicht los und auch nicht die Hand des Dreijährigen. Der starrte seine Mutter fassungslos an. Bella erhob sich, aber Nini zog sie auf ihren Sitz zurück.
    Das ist nicht nötig, sagte sie. Die Leute regeln ihre Sachen selbst. Sehen Sie doch. Sie ist nicht mehr allein.
    Eine der Kassiererinnen, deren Arbeitsplatz durch die Schaufensterscheibe zu sehen war, kam auf die Straße gelaufen. Ein dünner Mann im Trainingsanzug, der zwei Baguette unter dem Arm und ein Netz mit ein paar Bierdosen in der Hand hielt, bemühte sich, mit der freien Hand der Frau wieder auf die Füße zu helfen. Der kleine Junge begann zu weinen. Eine alte Frau holte etwas, das vielleicht eine Süßigkeit war, aus ihrem Korb und versuchte, sie dem Jungen zu geben. Bald standen sechs oder sieben Menschen um die Schwangere herum, die Bella und Nini den Blick auf die Szene versperrten.
    Was hab ich gesagt, murmelte Nini. Sie schien zufrieden mit dem Verhalten der Menschen in ihrem Viertel.
    Die beiden setzten ihren Spaziergang fort. Bella hielt, je länger sie umherwanderten und je deutlicher ihr die Situation in Belle de Mai wurde, die Szene, die sie gerade beobachtet hatten, für zufällig. Vielleicht hatten sie gesehen, was sie sehen wollten, weil sie auf Solidarität gehofft hatten. Es gab zu viele heruntergekommene Häuser, zu viele Wohnungen mit vernagelten Fenstern, zu viele Männer, die schon am Vormittag auf der Straße saßen, rauchten und Bier tranken. Nini hatte schon seit einer Weile aufgehört zu reden.
    Hier war mal Leben, sagte sie irgendwann.
    Dabei konnte nicht die Rede davon sein, dass das Viertel ausgestorben war. Es gab immer noch kleine Läden, Menschen, die einkauften, Kinder, die in die Schule gingen oder nach Hause.
    Was ist das, überlegte Bella, das sich wie Mehltau über das ganze Viertel gelegt hat?
    Die Fabrik war die Seele, sagte Nini, und die Seele ist weg.
    Kommen Sie, wir setzen uns in ein Bistro und essen eine Kleinigkeit, antwortete Bella.
    Essen, immer nur essen. Ich glaube, ich könnte einen Gin vertragen. Können Sie sich vorstellen, dass ich tatsächlich gehofft habe, jemanden zu treffen, den ich noch von früher kenne?
    Sie fanden ein kleines Bistro, das in dem spitzen Winkel zwischen zwei Straßen lag. Der Besitzer hatte ein paar Tische und Stühle auf das Stückchen Erde vor dem Eingang gestellt. Auf eine Tafel hatte er mit Kreide geschrieben, wie günstig das Mittagessen hier sei. Im Innern hielten sich zwei Männer und eine Frau auf, die Bier vor sich stehen hatten und rauchten. Die Frau

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