Tod in Marseille
für die Nacht. Jemand, den du nicht kennst, las sie.
Bella legte den Zettel lächelnd zurück Noch nie hatte sie so wenig Lust gehabt, über das Verhalten eines Mannes nachzudenken, wie in diesem Augenblick. Auf dem Weg zurück ins Hotel beschloss sie abzureisen.
In ihrem Zimmer war der Papierkorb geleert worden. Nichts erinnerte mehr an die kleine Alte im schwarzen Schal. Nichts außer den Bildern, die Bella im Kopf hatte. Die würden bleiben: der Körper im Rinnstein vor dem Hotel, in dem die Seghers gewohnt hatte, und die hastigen Schritte, die Silhouette des Mannes, den ihr Erscheinen davon abgehalten hatte, sie auszurauben. Ihr langsam trauriger werdendes Gesicht, als sie die Veränderungen in Belle de Mai zu registrieren begann und verstand, dass die Zeit über sie hinweggegangen war. Der trotzige Ton, in dem sie darauf bestanden hatte, mitgenommen zu werden bei der Suche nach Maria-Carmen. Damit allerdings waren dann doch die Gedanken an Grimaud zurückgekehrt.
Ich muss sie zulassen, dachte Bella, um mit dieser Geschichte abschließen zu können. War es Zufall, dass sie gerade jetzt vor dem Spiegel stand und sich ins Gesicht sah?
Das bist du also, Bella Block: ein bisschen ausgefranst, runder als vor zwanzig Jahren, gelassener. War »gelassen« das richtige Wort? Oder sollte sie besser »gleichgültiger« sagen? Nein, das sollte sie nicht. Es war nur einfach so, dass sie inzwischen noch etwas mehr verstanden hatte von der Welt. Sie wusste nun, dass die Erfahrungen im Leben des Einzelnen und das Leben der Welt sich wie in einer unendlichen Kette ständig wiederholten. Dass sie eigentlich schon als Kind verstanden hatte, worauf es ankam, wenn man glücklich sein wollte. Dass alles, was sie als Erwachsene dann erlebt hatte, immer und immer wieder die Erfahrungen ihrer Kindheit bestätigte. Der Unterschied zu damals war nur, dass sie nun in der Lage war, ihre Erfahrungen zu artikulieren.
Eine Zeitlang war sie verzweifelt gewesen, als ihr bewusst geworden war, dass sich in ihrem Leben nichts wirklich Neues mehr ereignen würde. Sie würde keine neuen Erfahrungen mehr machen, keine ihr bis dahin unbekannten Gefühle entwickeln, keine noch nie gesehene Farbe des Lichts überrascht wahrnehmen. Alles, alles war Wiederholung, und diese Erkenntnis hatte sie zuerst erschreckt, ja, sogar zu irrationalen Abenteuern verleitet. Aber diese Zeit war vorüber. Es war eine Aufgabe, ja fast schon ein Sport geworden, die Eindrücke, die Gerüche, die Sätze, die Worte, das Leuchten der Welt, die ihre Kindheit ausgemacht hatten, so intensiv wie möglich zurückzuholen. Es gelang nie wirklich, aber manchmal kam sie den Dingen näher, und das war fast wie ein Triumph.
Auch ihr Verhältnis zu ihrer Mutter Olga hatte sich noch einmal gewandelt. Olga, die sicher gewesen war, dass sie und ihre Genossen die Welt verändern würden, dass es möglich sein müsste, in einer Welt ohne Kriege zu leben, dass nicht mehr geduldet werden dürfte, Kinder verhungern zu lassen, Frauen zuerniedrigen. Um diese Welt zu bauen, brauchten Olga und ihre Genossen eine neue Moral, die aus Solidarität bestand, aus Klugheit und Mut. Auch über Olga war die Zeit hinweggegangen. »Solidarität« war ein Unwort geworden. »Klugheit« und »Mut« galten als Vehikel, um persönliches Fortkommen zu sichern und den Nächsten niederzuhalten. Von der neuen Moral war nichts mehr übrig geblieben. Dafür war von Werten die Rede, Werte, die es erlaubten, Flüchtlinge abzuschieben, Kriege zu führen, die Reichen reicher und die Armen ärmer werden zu lassen; im eigenen Land und in der Welt.
Olgas Haltung galt irgendwann als obsolet und wurde noch immer Tag für Tag lächerlich gemacht. Bella aber war ihrer Mutter, mit der sie oft genug gestritten hatte, inzwischen dankbar für die Maßstäbe, die sie gesetzt hatte. Auch wenn die Zeit über sie und ihre Genossen hinweggegangen war – die ewige Wiederholung würde sie, in welcher Form auch immer, wieder ans Licht bringen.
Bis dahin, eine Zeit, die du nicht mehr erleben wirst, Bella Block, versuch ein wenig danach zu leben, wie deine Mutter es von dir erwartet hat.
Und weshalb erzählst du dir das alles jetzt? Und siehst dir dabei ins Gesicht und versuchst, die Stellen zu entdecken, wo die Lüge sitzt? Nur weil du eine schöne Nacht und einen Sonnenaufgang über Marseille mit einem korrupten Polizisten erlebt hast und nun nach einer Rechtfertigung dafür suchst, dass du keine Gewissensbisse hast?
Sie hatte
Weitere Kostenlose Bücher