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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Gercke
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tatsächlich überhaupt keine Gewissensbisse, im Gegenteil. Beim Kofferpacken summte sie fröhlich vor sich hin, lachte in Erinnerung an den Chor der Pseudo-Seeleute und hatte Julien Grimaud beinahe schon vergessen.
    Als ihr Telefon läutete, nahm sie nicht ab. Sie ging hinunter, bezahlte ihre Rechnung – die Concierge verlangte für vier Tage einen höheren Preis, weil sie Besuch gehabt habe – und ging zum Bahnhof St. Charles, um eine Fahrkarte zu kaufen. Als siezurückkam, stand Grimauds Auto vor der Tür des Hotels. Sie sah es aus der Ferne, machte kehrt und schlug den Weg zum Boulevard d’Athènes ein. Sie würde auf die Canebière gelangen, zu einem letzten Rundgang durch die Innenstadt; an Benjamin, Seghers und Izzo vorüber, zu einem Blick auf den Alten Hafen und einem Glas Rosé auf der Place de Lenche. So wollte sie sich angemessen von Marseille verabschieden. Auch Walter Benjamin war durch die Stadt gewandert. Sein Resümee:
    … und über all dem Staub, der hier aus Meersalz, Kalk und Glimmer sich zusammenballt und dessen Bitternis im Munde dessen, der es mit der Stadt versucht hat, länger vorhält als der Abglanz von Sonne und Meer in den Augen ihrer Verehrer.
    »Der es mit der Stadt versucht hat«! Was für eine schöne Formulierung. Auch sie hatte es mit Marseille versucht. Der Versuch war gescheitert. Vielleicht würde sie irgendwann einen neuen Versuch unternehmen. Es gab im Augenblick keinen Grund, darüber nachzudenken, wann das sein würde.
    An einem Zeitungsstand hinter dem Musée de la Mode blätterte sie in einem Exemplar des Marseille l’Hebdo . 2013 würde Marseille Kulturhauptstadt Europas werden. Man versprach sich viel davon. Bella dachte an das alte Hafengebäude am Quai de la Joliette, in dem sie vor ein paar Tagen gewesen war: viele schicke Restaurants und die meisten leer. In allen großen Städten waren Intellektuelle, Stadtplaner, Restaurantbesitzer, Architekten, Geldleute dabei, die Spuren der Industriearbeit zu beseitigen. Leerstehende Gebäude nutzten sie nach ihrem Geschmack. Manchmal, sehr selten, ging so etwas gut. Ein ausreichend mit Geld versorgter Mittelstand ohne eigene Phantasie nahm dann die neuen Unterhaltungsangebote entzückt an. Für die einfachen Leute, die es ja immer noch gab, deren Arbeit nur nicht mehr gebraucht wurde, war sehr selten etwas dabei.
    Sie legte die Zeitung zurück. Ihr Blick fiel auf ein Foto auf der Titelseite von La Provence . Das war doch Nissen. Sie kaufte die Zeitung und las:
    Seit Tagen ist ein Schiff des Hamburger Reeders Gerd-Omme Nissen, das am 5. Oktober von Marseille aus in Richtung Uruguay unterwegs war, überfällig. Die Mariella hat Düngemittel geladen und ist mit einer fünfköpfigen Besatzung unterwegs. Der Hamburger Reeder, dem das Schiff gehört und der in seiner Heimatstadt großes Ansehen genießt, ist Mitglied der Delegation zur 50-Jahr-Feier der Partnerschaft zwischen Hamburg und Marseille.
(weiter auf Seite 3)
    Sie schlug die Zeitung auf. Noch einmal ein Foto von Nissen, diesmal in einer größeren Gruppe, zusammen mit dem Bürgermeister und ein paar anderen Männern, darunter dem Mann, der sich auf der Terrasse neben Bella über den nicht enden wollenden Chorgesang aufgeregt hatte. Auf dem Foto strahlte Nissen in die Kamera. Offenbar war es vor der Meldung über das überfällige Schiff aufgenommen worden. Die Informationen, die der Artikel enthielt, waren äußerst spärlich. Sie gingen im Grunde nicht über das hinaus, was auf der ersten Seite stand. Ein paar Worte wurden über die Besatzung verloren. Der Kapitän war offenbar ein Russe, die übrige Besatzung bestand aus zwei Philippinos, einem Afrikaner und einem tschechischen Ingenieur.
    Weshalb fiel ihr gerade jetzt, als sie die Nachricht gelesen und die Zeitung im Weitergehen in den nächsten Papierkorb gesteckt hatte, ein Vers ein, den sie bei Izzo gefunden hatte?
    Ich spüre Züge kommen,
    beladen mit Brownings,
    Berettas und schwarzen Blumen,
    und Blumenhändler bereiten Blutbäder
    für die Nachrichten in Farbe …
    Plötzlich hatte sie das Gefühl, als wäre diese Stadt wie eine Katastrophe über sie gekommen; als wäre Nissen ein Teil dieser Katastrophe, die mit einem Killer namens Picard begonnen hatte, in der eine fette Afrikanerin Frauen verkaufte, einem spanischen Mädchen das Leben im Bordell als eine Alternative erschien; eine alte Frau, anstatt den Rest ihres Lebens unter Freunden zu verbringen, auf der Straße verendete, misshandelt von

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