Tod in Seide
Journalist der Post tapezierte den kleinen Presseraum im Gericht mit seinen Leitartikeln. »Im Radio haben sie schon vom ›Blutbad an der Tenth Avenue‹ gesprochen. Das Gesicht des armen Mädchens wird in allen Boulevardblättern auftauchen. Wie furchtbar, dass sie sterben musste – sie war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Dieser Kerl ist ein Monster.«
Mercer war jetzt schon seit vier Stunden im Operationssaal. Langsam fiel Mike und mir nichts mehr ein, womit wir uns noch ablenken konnten. Jede halbe Stunde kam ein neuer Schwung Detectives, die trösten, beten, Blut spenden oder sonst irgendwie behilflich sein wollten. Der Bürgermeister und der Polizeipräsident hatten ihre Stellungnahmen in der Eingangshalle des Krankenhauses abgegeben, alle Bürger New Yorks aufgefordert, Mercer in ihre Gebete miteinzuschließen, und sich dann wieder von dannen gemacht.
Als zwei Männer in blutbefleckten grünen Kitteln lächelnd in den Raum kamen, umarmte mich Mike, noch bevor sie ein Wort gesagt hatten. »Ihr Partner wird durchkommen«, sagte einer der Chirurgen. »Wir haben …«
»Warum, zum Teufel, hat es so lange gedauert, uns das zu sagen?«, fragte Chapman. »Wir würden gerne zu ihm.« Während der Chirurg noch redete, ging er auf die Tür zu; ich wusste dass er nicht wollte, dass wir sahen, wie er mit den Tränen kämpfte.
»Mr. Wallace ist noch im Aufwachraum. Geben Sie ihm noch ein paar Stunden, und sobald er auf die Intensivstation verlegt wird, können Sie oder einer von Ihnen kurz zu ihm.« Ohne sich umzudrehen sagte Mike, dass er vom Telefon in der Halle aus Mercers Vater anrufen und ihm die gute Nachricht mitteilen werde.
»Ich bin Alex Cooper. Ich war dabei, als der Detective angeschossen wurde. Was war …«
»Die Kugel schlug nur einen Zentimeter über seinem Herzen ein und blieb in einem Knochen stecken. Aber die größere Gefahr ging von den inneren Blutungen aus. Ich glaube, wir haben alles im Griff, aber die nächsten Stunden werden noch kritisch sein.« Er sah auf seine Uhr. »Es ist fast vier Uhr. Warum gehen Sie nicht etwas essen? Geben Sie den Krankenschwestern noch etwas Zeit, es Mercer gemütlich zu machen.«
»Wir werden hier bleiben, Doktor. Ich glaube nicht, dass wir etwas anderes tun werden, bevor wir Mercer gesehen haben.« Mike und ich würden uns nicht vom Fleck bewegen, bevor wir nicht bei ihm gewesen waren.
Ich dankte ihnen für ihre Hilfe, und sie ließen mich in dem kleinen Raum allein. Ich sank in einen Stuhl, legte den Kopf in die Hände und dachte an all die Gelübde, die ich in den letzten Stunden getan hatte, an all die Dinge, die ich anders und besser machen wollte, wenn Mercer nur am Leben blieb. Alles tat mir weh, während ich den Tag im Geiste Revue passieren ließ und daran dachte, was geschehen wäre, wenn wir nicht in die Galerie gegangen wären. Als das stete Hämmern in meinem Kopf zunahm, erinnerte es mich an das Geräusch der Schüsse von heute Vormittag. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Schmerzen Mercer gehabt haben musste, als die Kugel in seine Brust eindrang.
Ich nahm das Handy aus der Papiertüte und wählte Battaglias Privatnummer. Ich war erleichtert, als sich nur der Anrufbeantworter meldete. Ich konnte darauf verzichten, dass mir noch jemand auf die Finger klopfte. Ich sprach ihm die guten Nachrichten auf Band und sagte ihm, dass ich heute bei einem Freund übernachten würde.
Jake kam heute Abend um viertel nach sieben in La Guardia an, mit der Maschine, mit der auch ich ursprünglich nach New York zurückgekommen wäre. Da ich ihn auf Martha’s Vineyard nicht erreichen konnte, hinterließ ich ihm dort und in seiner Wohnung eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, erzählte ihm von der Schießerei und fragte ihn, ob ich ein paar Tage bei ihm bleiben könnte.
Mike kam eine Viertelstunde später mit zwei Kaffee und einem Sandwich zurück. »Willst du die Hälfte?«
»Nein, danke.« Mein Magen war noch viel zu aufgewühlt. »Ich muss mich bei dir dafür entschuldigen, dass ich dich am Freitag am Telefon so angeschnauzt habe.«
Mikes Appetit stand in direktem Verhältnis zu seiner Laune. Mit weitaufgerissenem Mund schob er sich das mit Schinken, Provolone, Salat, Tomaten und Zwiebeln belegte Sandwich zwischen die Zähne und knautschte während des Kauens ein »Schon gut« hervor. »Ich weiß, dass du oft Scheiße redest, Blondie«, sagte er, nachdem er die ersten drei Bissen sorgfältig gekaut und hinuntergeschluckt hatte. »Hey, denkst
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