Tod in Seide
Aber er war ein rechter Einzelgänger. Seit er sich vor mehr als vierzig Jahren etabliert hatte, bestand er darauf, allein zu arbeiten. Wenn man das Glück hatte, dass er einem seine Aufmerksamkeit schenkte, und wenn er sich bereit erklärte, an jemandes Projekt zu arbeiten, dann wollte er, dass das Ergebnis als das seine galt.«
»Was meinen Sie mit ›wenn er sich bereit erklärte‹? Musste er nicht einfach Aufträge annehmen?«, fragte Chapman.
Ein schiefes Lächeln legte sich auf das ernste Gesicht von Mr. Cannon. »Nein, nein, nein. Mr. Varelli hatte mehr als genug zum Leben. Er wurde für seine Arbeit bestens bezahlt. Also war irgendwann einmal in seinem Leben der Punkt erreicht, ab dem er Aufträge ablehnen konnte. Wenn er das Bild oder den Künstler nicht der Mühe wert hielt, rührte er es nicht an, egal wie viel ihm dafür geboten wurde.«
»Was, wenn nicht klar war, wem das Bild gehörte?«
»Nun, in dem Fall, Miss Cooper, konnte ihn nichts dazu bewegen, daran zu arbeiten. Ich kann mich an einen Fall erinnern, als ein Sammler mit einem Léger ins Atelier kam. Das Bild, um das es ging, war im Centre Pompidou als ein R2P klassifiziert worden, das heißt, es war während des Krieges von den Nazis beschlagnahmt und später an Frankreich zurückgegeben worden. Bis heute konnten der ursprüngliche Besitzer des Bildes beziehungsweise seine Erben nicht ermittelt werden. Signor Varelli wollte mit dem Bild nichts zu tun haben, bevor nicht seine Herkunft geklärt war und seine rechtmäßigen Eigentümer ausfindig gemacht worden waren. Je mehr Geld man ihm in so einem Fall anbot, umso mehr beleidigte ihn das. Ist das bei den Juristen nicht genau so? Ich meine, all die ethischen Konflikte, in die ein Verteidiger kommen kann?«
Er sah mich erwartungsvoll an, aber Chapman antwortete an meiner Stelle. »Sie schauen zu viel fern. Ich kenne keinen Verteidiger, der sich von einem ethischen Konflikt aufhalten lässt – ist der Scheck gedeckt, ist der Mandant nicht schuldig.«
»Sie haben gesagt, dass niemand für Varelli gearbeitet hat. Aber was ist mit Ihnen ?«
»Ich hatte das Privileg, sein Lehrling zu sein, Detective. Ein kostspieliges Privileg.«
»Sie mussten dafür bezahlen, ihm zu helfen?«
»Nun, ich hatte ein Stipendium von einer privaten Familienstiftung. Anders hätte ich es mir gar nicht leisten können. Sie müssen sich das ungefähr so vorstellen, als ob man auf der besten Uni der Welt studiert. Fast drei Jahre lang hatte ich Privatunterricht bei einem Genie. Was er mir beigebracht hat, hätte ich nirgendwo sonst lernen können.« Cannon ließ den Kopf hängen. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr am Leben ist. Schlimmer noch, dass er ermordet wurde.« Er sah wieder auf. »Er war ein so ruhiger, gütiger Mensch. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand einen Grund gehabt hätte, ihm wehzutun.«
»Ich nenne Ihnen jetzt einige Namen, und Sie sagen uns, ob Sie diese Leute kennen, in Ordnung?«
Cannon räusperte sich und nickte.
»Fangen wir mit Lowell Caxton an. Haben Sie ihn jemals getroffen?«
»Oft. Ich vermute, Marco hat ihn schon gekannt, als ich noch gar nicht auf der Welt war. Ich glaube, er war einer der wenigen Sammler, die Mr. Varelli bewundert hat, wegen seines Geschmacks. Ich bin niemals bei den Caxtons zu Hause gewesen, aber man sagt, dass da wohl über mehrere Generationen ein großartiger Kunstsinn vererbt worden ist. Mr. Caxton kam ab und zu vorbei, wenn er eine Expertise brauchte. Haben Sie von dem Tizian gehört – den, den er Marco geschenkt hat?«
»Ja, wir haben uns einige Minuten mit Mrs. Varelli im Beerdigungsinstitut unterhalten. Wir werden uns wahrscheinlich in ein paar Tagen noch einmal mit ihr in ihrer Wohnung treffen.«
»Marco verehrte dieses Geschenk – diese kleine Zeichnung ist ein wahres Juwel. Ich glaube, dass seine Meinung über Lowell Caxton stark von dieser Geste beeinflusst war. Es ist schwierig, jemanden nicht zu mögen, der sich als so großzügig erwiesen hat.«
»Gab es jemals einen Streit zwischen den beiden?«
Cannon zuckte mit den Achseln. »Nicht, dass ich wüsste. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass ich ja nicht die ganze Zeit im Studio war. Meistens war ich dort, wenn er wirklich an seinen Projekten arbeitete, nicht wenn er mit seinen Auftraggebern sprach oder wenn sie auf ein Glas Grappa vorbeikamen, um ihn zu fragen, wie viel sie für ein bestimmtes Bild bieten sollten. Er hatte kein Problem damit, mich
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