Tod in Seide
wegzuschicken. ›Vielen Dank, Mr. Cannon. Ich glaube, per placere , dass wir fürs Erste fertig sind.‹ Er wedelte mit seiner Hand in meine Richtung und ich wusste, dass es Zeit war zu gehen.«
»Wohin?«
»Von dem Stipendium konnte ich meine Lehre finanzieren, aber mir keine Wohnung in Manhattan leisten. Meine Freundin und ich wohnen zur Untermiete in einem Loft in Soho. Sie studiert an der NYU. Wenn ich frei hatte, ging ich normalerweise in die Bibliothek, in eine Ausstellung oder ins Kino. Jedenfalls war klar, dass ich mich verkrümeln müsste.«
Chapman hakte Caxtons Namen ab. »Bryan Daughtry. Sind Sie dem mal begegnet?«
»Ja, manchmal, wenn auch in letzter Zeit nicht mehr so häufig, da er sich ja auf zeitgenössische Kunst spezialisiert hat. Aber Marco hatte schon vor meiner Zeit mit ihm zusammengearbeitet, noch bevor Daughtry im Gefängnis war – wegen der Steuersache, nicht wegen der anderen Geschichte.« Cannon sah mich an, um zu sehen, ob seine Anspielung auf das Mädchen in der Ledermaske eine Reaktion hervorrufen würde.
»Was wissen Sie über ihn?«
»Ich will das, was man sich über Bryan Daughtrys Verwicklung in dieser Sache erzählt hat, nicht auf die leichte Schulter nehmen, aber Mr. Varelli schien davon irgendwie fasziniert gewesen zu sein. Er kannte Bryans brutale Seite nicht. Sie lernten sich kennen, als Bryan noch ein junger Mann mit einem relativ guten, wenn auch ungeschulten Auge für Kunst war. Ich selbst war ein bisschen schockiert, als ich Bryan das erste Mal im Studio traf. Marco hat mir gleich an dem Tag alles über ihn erzählt.«
Cannon rutschte auf seinem Stuhl hin und her, legte die Fingerkuppen seiner rechten Hand aneinander und wedelte damit vor meinem Gesicht, während er den Akzent des alten Mannes imitierte. »›Können Sie mir sagen, Mr. Cannon, warum ein junger Mann eine wunderschöne junge Frau fesseln und ihr wehtun möchte? Das verstehe ich überhaupt nicht. Von einem solchen Körper sollte man nur Genuss, nur Angenehmes, nur – come si dice in inglese? – Verzückung empfangen. Aber vielleicht bin ich zu alt, um das zu verstehen.‹ Ehrlich gesagt hatte ich den Verdacht, dass mich Mr. Varelli wegschickte, um Daughtry über seine sexuellen Vorlieben auszufragen. Das interessierte Marco mehr als zeitgenössische Kunst.«
Cannon redete noch eine Weile über Bryan Daughtrys jüngste geschäftliche Interessen, konnte sich aber nicht erinnern, dass Varelli sich jemals über Daughtry aufgeregt hätte.
»Sagt Ihnen der Name Marina Sette etwas?«
Cannon verneinte.
»Marilyn Seven?« Ich beschrieb sie ihm und erwähnte auch, wo sie wohnte.
»Es kann natürlich gut sein, dass sie bei Marco war. Aber an den Namen kann ich mich nicht erinnern.«
»Frank Wrenley?«
Wieder nichts. Auch Preston Mattox sagte ihm nichts. Cannon kannte die Namen von einigen der Arbeiter, aber von Omar Sheffield und Anton Bailey hatte er noch nie gehört.
Chapman legte seinen Kugelschreiber hin und verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch.
»Erzählen Sie mir alles, was Sie über Denise Caxton wissen. Wann Sie sie zuerst gesehen haben, was für ein Typ sie war, was Marco über sie gedacht hat. Dinge, die Ihnen unwichtig erscheinen, können unter Umständen genau das sein, wonach wir suchen. Also seien Sie bitte so ausführlich wie möglich, okay?«
»Das ist nicht so einfach, Detective. Da war Denise Caxton, die Frau, und Denise Caxton, die Sammlerin. Marco Varellis Augen täuschten sich nie. Er war ein Bewunderer großer Schönheit, ob in der Kunst oder in natura. Nichts Unschickliches, nichts Ungewöhnliches. Aber das schöne Gesicht einer Frau war für ihn wie ein Kunstwerk, das er mit den gleichen Augen ansah wie eine Skulptur von Michelangelo. Da spielte es keine Rolle, ob sie eine Bedienung in einem Restaurant oder eine millionenschwere Kundin war. Mrs. Caxton hatte von Anfang an bei Marco einen Stein im Brett, noch von früher. Er hat sie kennen gelernt, als sie praktisch noch ein Kind und gerade frisch mit Lowell verheiratet war. Wenn ich mich nicht irre – da müssten Sie in ihrer Wohnung nachsehen –, hat Mr. Varelli sie einmal gemalt, einen Ganzkörperakt. Er war sehr stolz darauf und sagte mir, dass sie das Bild bei sich zu Hause aufgehängt hatte. Ich glaube, sie hatte eine Sammlung von Porträts von sich, richtig?« Er gluckste, als würde er sich über ihre Eitelkeit lustig machen, und fuhr dann fort: »Sie war wirklich ein Flirt – Mrs. Caxton. Sie wusste ganz
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