Tod in Seide
bei den Auktionen unterhalten. Kannst du um fünf in Kim McFaddens Büro kommen? Dort erfahren wir dann mehr, auch über den Diebstahl im Gardner-Museum.«
Die Bundesstaatsanwaltschaft für den südlichen Bezirk war vier Blocks von meinem Büro entfernt, hinter dem alten Federal Courthouse und unweit des Polizeipräsidiums und der New Yorker FBI-Dienststelle. »Geht in Ordnung. Das gibt mir Zeit, um mich bis dahin hier um andere Sachen zu kümmern. Dann bis fünf.«
»Ist es gerade ungünstig?«, fragte Carol Rizer, die in der Tür stand. Sie war neu in der Abteilung, und obwohl sie sehr gute Arbeit leistete, war es wichtig, sie bei schwierigen Fällen zu beaufsichtigen.
»Wenn Sie auf einen günstigen Zeitpunkt warten wollen, dann würde Ihr Zeuge an Altersschwäche sterben. Was gibt’s?«
»In einem Fall, der letzte Nacht hereinkam, gibt es Probleme mit dem Opfer. Der Angeklagte hat ein ziemlich übles Strafregister – drei Vorstrafen wegen Schwerverbrechen –, aber irgendetwas stimmt mit der Geschichte des Opfers nicht, und ich komme einfach nicht dahinter, was es ist. Kann ich sie herbringen, damit Sie sich mit ihr unterhalten?«
»Klar, aber geben sie mir noch ein paar Hintergrundinformationen.«
»Ihr Name ist Ruth Harwind, neunzehn Jahre alt. Wohnt mit ihrer Mutter in Queens. Sie hat einen Freund, Wakim Wakefield – er sitzt in meinem Büro. Bei dem Angeklagten handelt es sich um Wakims Mitbewohner, Bruce Johnson. Ruth behauptet, dass es passiert ist, als sie einmal in der Wohnung geblieben ist, nachdem Wakim in die Arbeit gegangen war. Sie sagt, dass Bruce mit einem Messer die Schlafzimmertür aufbrach und sie dann in sein Zimmer schleifte. Dort hat er sie dann vergewaltigt, sagt sie.«
Carol wusste, wie ich diese Interviews handhabte. Sie hatte mir eine Liste gemacht, auf der all die Ungereimtheiten von Ruths Version, die sie zuerst der Polizei und dann ihr erzählt hatte, aufgeführt waren. Die Fakten, die wenig Sinn ergaben, waren mit einem Leuchtstift markiert.
»Wo sind die Haken?«
»Es fängt schon mal damit an, dass der Freund mitten während der Vergewaltigung zurückkam, an Bruces Tür klopfte und fragte, wo Ruth sei. Bruce sagte, er wisse es nicht, und Wakim ging wieder. Also warum hat sie nicht geschrien, als Wakim vor der Tür stand? Wenn sie mir erzählt hätte, dass Bruce sie mit einem Messer bedrohte, würde ich ihr glauben. Aber sie sagte nur, dass es ihr nicht eingefallen sei.«
»Was noch?«
»Ein Polizist sah sich die Tür an, die Bruce angeblich mit dem Messer aufgebrochen hatte. Doch davon gibt es keine Spur, weder am Holz noch am Lack. Und schließlich hat sie es nicht sofort gemeldet. Als sie die Wohnung verließ, lief sie auf der Straße Wakim in die Arme. Sie ging wieder mit ihm in die Wohnung, duschte und schlief mit ihm. Niemand sagte etwas von ›Vergewaltigung‹, bis Bruce’ Freundin heimkam und Wakim erzählte, dass Ruth ihn betrogen hatte. Es war Wakim, der wollte, dass sie zur Polizei geht, falls die Geschichte stimmt.«
Häufig lässt sich das Motiv für eine Falschanzeige daraus ableiten, unter welchen Umständen es zur polizeilichen Meldung eines Sexualverbrechens kam. Oft ist es der wütende Freund, der von dem Opfer verlangt, eine Anzeige aufzugeben, falls das Verbrechen wirklich geschehen ist.
»Gibt es eine Aussage von Bruce?«
Einer meiner Lieblingsabteilungsleiter, Warren Murtagh, hatte eine Reihe von Ausbildungsregeln, und seine Regel Nr. 3 war eine gute: »Kein Angeklagter sagt jemals gar nichts.« Jeder, der verhaftet wird, sagt zu den Polizisten, entweder spontan oder bei der Vernehmung, irgendetwas, was sich später beim Rekonstruieren des Tathergangs oft als nützlich erweist.
Nicht selten sind die Bemerkungen des Täters eigennützig und völlig nutzlos, aber sie können genauso oft ein Körnchen Wahrheit enthalten beziehungsweise ein Licht auf die Version des Opfers werfen. Meistens liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte.
»Johnson sagt, dass sie es auch wollte. Er sagt, dass er ihr zehn Dollar geboten hat, damit sie mit ihm schläft. Er hat auch erzählt, dass sie sogar zusammen einen Porno angeschaut haben. Und dass er ein Kondom benutzt hat, weil sie ihn darum gebeten hat. Hinzu kommt, dass sie uns nicht die Wahrheit gesagt hat, was einige andere Sachen angeht. Sie sagte, dass sie seit sechs Monaten in dem Victoria’s-Secret-Laden im World Trade Center arbeitet. Ich rief dort an und sprach mit der Frau, die die Filiale dort seit
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