Tod in Seide
derselben Gegend sein Unwesen trieb, musste er sich dort sicher fühlen. Es war mit Sicherheit jemand, der in dem Viertel wohnte oder arbeitete und sich dort bewegen konnte, ohne verdächtig zu erscheinen. Falls es der Polizei und den Labors nicht gelang, den Fall zu knacken, konnten wir nur darauf hoffen, dass einem Nachbarn oder Arbeitskollegen die Ähnlichkeit mit dem Phantombild auffallen und dieser oder diese die Hotline anrufen würde. Das größte Hindernis dabei war die typische Reaktion der Leute – dass der Junge oder Mann von nebenan unmöglich ein Vergewaltiger sein konnte.
Als Josie fertig gegessen und sich ein paar Minuten ausgeruht hatte, setzte ich mich zu ihr und begann ihr unsere weitere Vorgehensweise zu erklären. Die Detectives, die mit ihr an dem Phantombild gearbeitet hatten, gingen hinaus, und Mercer nahm an ihrer Stelle an dem Tisch Platz, um sich von unserer Unterhaltung Notizen zu machen.
Unsere Fragen mussten genauer sein als die, die man ihr bisher gestellt hatte. Während die uniformierten Polizisten, die auf ihren Notruf reagiert hatten, sich nur in groben Zügen nach dem Tathergang erkundigt hatten, und der Arzt, der sie untersucht hatte, wissen wollte, welche Art von Kontakt stattgefunden hatte, mussten Mercer und ich von Anfang an jedes kleinste Detail erfragen. Häufig waren Dinge, die dem Opfer unwichtig erschienen, für uns ausschlaggebend, um einen Fall mit einem anderen in Verbindung bringen und das Puzzle lösen zu können. Ich begann stets damit, der Zeugin zu erklären, warum solche scheinbar unwichtigen Details uns weiterhelfen konnten.
Wir baten Josie, uns alles zu berichten, was sie am vorangegangenen Nachmittag und Abend getan hatte. Obwohl das eventuell gar nichts damit zu tun hatte, was dann später vor ihrem Hauseingang geschehen war, konnten wir die Möglichkeit nicht ausschließen, dass sie und der Täter sich bereits früher am Abend über den Weg gelaufen waren oder dass er ihr von einem Ort zum nächsten gefolgt war.
Der ursprüngliche Polizeibericht hatte, wie das in den meisten Fällen üblich war, den Tathergang in einem einzigen Satz zusammengefasst: »Zum Zeitpunkt und am Ort des Geschehens war der Angeklagte in Besitz einer Waffe, schlug die sich wehrende Zeugin mit den Fäusten ins Gesicht, verletzte sie und zwang sie unter Anwendung von Gewalt zum Beischlaf.«
Nach fast vier Stunden waren Mercer und ich so weit, dass wir die Vernehmung beenden konnten. Wir wussten genau, wie der Vergewaltiger vorgegangen war, wo Josie sich relativ zu ihm aufgehalten hatte, als sie ihn zum ersten Mal wahrgenommen hatte, die genauen Worte, die er gebraucht hatte, als er sie in der Lobby des Gebäudes bedrängt hatte, und wie sie darauf reagiert hatte. Wir wussten, in welcher Hand er die Waffe gehalten hatte und warum deren Machart und Aussehen sie vermuten ließ, dass es sich um eine Attrappe handelte.
Diese Prozedur war für die Zeugin enorm Kräfte raubend, und wir waren uns dessen voll bewusst.
»Fällt Ihnen noch irgendetwas ein, was wir Sie nicht gefragt haben, aber von dem Sie der Meinung sind, dass wir es wissen sollten?«
»Nicht das Geringste.« Josies Erschöpfung war offensichtlich.
»Werden Sie heute Nacht bei sich zu Hause sein?«, fragte ich. Es war fast sechs Uhr.
»Nein, nein. Ich bin noch nicht so weit. Meine Schwester wohnt in Brooklyn Heights. Ich werde ein paar Tage bei ihr bleiben, bis ich weiß, was ich tun werde.«
»Das ist sehr klug. Der Therapeut im Krankenhaus hat es Ihnen sicher schon gesagt – aber diese ersten Nächte werden nicht leicht sein.«
»Ich weiß. Der Doktor hat mir etwas zum Schlafen gegeben.«
»Ja, aber auch der Schlaf hilft nicht unbedingt. Es kann sein, dass Sie Träume – Albträume – haben werden und Rückblenden. Sie werden Leute auf der Straße sehen, die Sie an Ihren Angreifer erinnern, und es kann sein, dass Sie unwillkürlich verkrampfen und zu zittern oder zu weinen anfangen. Das ist alles völlig normal in so einer Situation. Und ob Sie es glauben oder nicht, die Zeit heilt wirklich viele Wunden.«
»Und die beste Hilfe wird es sein, diesen Scheißkerl zu finden«, versicherte ihr Mercer.
Einer der Detectives, der an dem Phantombild mitgearbeitet hatte, wohnte in Bay Ridge und sagte, er würde Josie auf dem Nachhauseweg bei ihrer Schwester absetzen. Ich ging mit ihr zu den Toiletten am Ende des ruhigen Flurs und wartete vor der Tür auf sie. Einige Minuten später konnte ich ihr Schluchzen hören. Ich
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