Tod in St. Pauli: Krimi Klassiker - Band 1 (German Edition)
brauchst vielleicht einen Büchsenöffner«, sagte Fred. Er hielt die Messerschneide nach oben, die Spitze auf Pauls Bauch gerichtet.
»Ich brauche keinen!« Pauls Stimme war heiser.
Fred lachte. »Hast du das gehört, Harald?«
Harald richtete sich grinsend auf und trat seine Zigarette aus. Paul sah, daß Harald inzwischen Fett angesetzt hatte. Seine enge Hose spannte sich um den Bauch, das schillernde Seidenhemd war verrutscht und sah aus wie eine schlecht genähte Fußballhülle. Außerdem hatte Harald jetzt ein Doppelkinn: zwei nach unten gewölbte Kissen; dicke Lippen, graue Porzellanaugen und schwarzes Haar, das wie Putzwolle abstand ...
Der große Harald! Er sah wieder auf das Messer von Fred. Er wollte grinsen, aber seine Gesichtsmuskeln gehorchten ihm nicht.
Fred war noch nicht fett. Er würde nie fett werden. Er war auch nicht dürr. Er war groß, mit Muskeln bepackt, und er hatte ein Messer.
Plötzlich spürte Paul den Hunger wie einen stechenden Schmerz. Er riß mit einem hastigen Ruck das Papier auseinander. Franz hatte ihm ein großes Stück Kasseler Rippchen eingepackt; Paul nahm es heraus und öffnete den Mund, um hineinzubeißen.
Freds Hand fuhr hoch. Paul spürte nur einen leichten Schlag – das rosige Fleischstück saß auf der Messerspitze und wurde mit einer leicht kreisenden Bewegung zu Harald hinübergeschleudert. Harald fing es auf und riß mit den Zähnen das Fleisch vom Knochen wie ein Hund. Paul hörte das Schmatzen und sah das Fett auf Haralds Lippen.
Freds Hand mit dem Messer schoß wieder nach vorn, fuhr unter das Papier und kam mit einem Stück Käse zurück. Es war ein goldgelber Streifen Schweizerkäse, der nicht ganz fest auf der Messerspitze saß, aber gleich aus der Drehung heraus zu Harald flog und aufgefangen wurde.
Paul schluckte, öffnete den Mund und schloß ihn wieder, ohne etwas zu sagen.
Die beiden Neuen hatten sich die ganze Zeit über nicht bewegt. Sie standen wie Marionetten an der Wand und beobachteten Fred und Harald. Der Größere hatte einen gekräuselten Bart, trug abgewetzte Bluejeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Der Kleinere mit den hellen Haaren hatte eine neue Westernkombination aus schwarzem Kunstleder mit Nickelnieten an. Einen Augenblick lang glaubte Paul, sich selbst dort stehen zu sehen – oder den, der er vor zwei Jahren gewesen war.
Freds Gesicht war völlig ausdruckslos, als er das Messer auf die Bierdose springen ließ und wieder herausriß. Er setzte die Büchse an den Mund und trank. Der Adamsapfel hüpfte auf und ab, die Hand mit dem Messer hing untätig herunter ... Fred sah gut aus. Er hatte ein glattes, gleichmäßiges Gesicht, hellblaue Augen, dichte braune Haare und trug einen cremefarbenen Anzug, der mindestens vierhundert gekostet hatte. Die schwarzbraune Krawatte hatte einen Mittelstreifen genau in der Farbe des Anzugs.
Paul dachte an seinen eigenen Anzug, an das alberne Pyjamahemd. Er riß Fred die Bierdose plötzlich aus der Hand und schleuderte sie gegen die Wand; das Bier hinterließ eine Straße von gelben Spritzern auf der Tapete, bevor die Dose auf den Boden schepperte.
»Haut ab! Alle zusammen! Endgültig, kapiert? Ich habe die Nase voll!« Pauls Stimme wurde lauter, und er erkannte wütend, daß sie nahe dran war, sich zu überschlagen.
Fred sah ihn aufmerksam an. Harald schob sich auf die andere Seite; den abgenagten Knochen hielt er noch immer in der Hand.
»Macht, daß ihr wegkommt! Ich will allein sein!« schrie Paul; seine Stimme zitterte, und er brach ab.
»Er ist nicht sehr gastfreundlich«, sagte Harald leise und legte den Knochen sorgfältig auf die Kante des Waschtisches.
Fred ließ mit einer leichten Aufwärtsbewegung das Messer zurück in das Heft gleiten, und Paul dachte eine Sekunde lang, sie wollten wirklich gehen. Sogar als die Faust von Harald hochschnellte, glaubte er zuerst, Harald wollte ihm die Hand geben.
Der Schmerz traf ihn überraschend, und es schien ihm, als würde es Stunden dauern, bis er ihn als Schmerz erkannte. Dann bückte er sich, um dem zweiten Schlag zu entgehen, aber Fred packte ihn bei den Schultern, und Haralds Faust riß ihn wieder hoch.
Paul hob das rechte Bein und stieß zu. Harald taumelte zurück, und Paul trat noch einmal, aber Fred war zu schnell für ihn. Paul fühlte, wie etwas auf seinem Kopf explodierte, spürte auf der Zunge den Geschmack von Eisen und sah, wie der mit Zigarettenstummeln bedeckte Boden auf ihn zukam.
»Laß ihn jetzt!« sagte die
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