Tod in Wacken (German Edition)
Racheakt gesprochen. Glauben Sie, dass Werner … ich meine, Sie denken, dass Werner diese Männer erschossen hat?« Sie blickte an Lyn vorbei. »Das … das würde er doch niemals getan haben. Oder?«
»Ihr Exmann ist vermutlich schwer depressiv. Psychische Störungen und Medikamente können einen Menschen sehr verändern.«
Dagmar Meifart nickte. »Ich weiß von einer Freundin, dass Werner nach unserer Trennung depressiv und bei einem Neurologen in Behandlung war. Das hat er dann aber irgendwann abgebrochen und sich stattdessen vom Wackener Medizinmann Hilfe geholt. Und von da an ging es wohl tatsächlich wieder bergauf mit ihm. Wie es ihm seit Judiths Tod ging, weiß ich allerdings nicht. Aber ich hoffe von Herzen, dass er nichts … nichts Schlimmes getan hat … Auf Wiedersehen.«
»Moment!« Lyn hatte beim Einsammeln der Vernehmungsutensilien innegehalten. »Wen meinen Sie mit Wackener Medizinmann?«
»Joost Beutler heißt er. So eine Art männliche Kräuterhexe. Aber er ist gut. Hat mir damals schon bei einem Ausschlag geholfen, den kein Hautarzt in den Griff kriegte. Ein Allroundtalent, und sehr sympathisch. Judith hatte während der Grundschulzeit bei ihm Flötenunterricht. Er ist anders als andere, aber nett. Kinder, deren Eltern sich Musikunterricht nicht leisten konnten, hat er damals unentgeltlich unterrichtet.«
»Ich habe von ihm gehört«, sagte Lyn. Sie hockte sich auf die Kante des Tisches. »Er soll in seinen religiösen Ansichten sehr … extrem sein.«
Dagmar Meifart nickte zustimmend. »Angeblich ist ihm ein Engel erschienen. Seitdem versucht er, die Menschen zu bekehren.« Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Ein wunderschöner Gedanke, nicht? Wer weiß, vielleicht gibt es wirklich Engel.« Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. »Irre ist Joost Beutler in meinen Augen jedenfalls nicht.«
Ein Engel! Lyn lehnte sich gegen die Tür, als Dagmar Meifart sie hinter sich geschlossen hatte. Es wurde immer skurriler.
Joost Beutler hatte die Schwedtkes also seit Langem gekannt. Und das nicht nur oberflächlich. Durchatmend stieß sie sich von der Tür ab. Es gab viel zu tun.
* * *
»Bitte schön!« Der Mann vom Schlüsseldienst trat zurück, nachdem er Werner Schwedtkes Haustür geöffnet hatte. Lyn trat hinter ihrem Chef und Staatsanwalt Meier ein. Volker Aschbach hatte ihr höflich den Vortritt gewährt. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen, vermischt mit dem Geruch nach Farbe. Es konnte noch nicht lange her sein, dass Werner Schwedtke seinen Flur gestrichen hatte. Hatte er mit dem fröhlichen Gelb an den Wänden die Gespenster vertreiben wollen, die der Freitod seiner Tochter zum Leben erweckt hatte? Die seine Gedanken mit Sicherheit beherrscht hatten?
»Ist es okay, wenn ich in Judiths Zimmer beginne?«, fragte Lyn, nachdem sie einen kurzen Blick in alle Zimmer des Erdgeschosses geworfen hatten. Dort gab es außer Flur, Küche, Bad, kombiniertem Wohn-Esszimmer sowie einem kleinen Hauswirtschaftsraum keine weiteren Zimmer.
Wilfried wedelte sie wortlos mit der behandschuhten Hand die mit Sisalmatten belegte Holztreppe hinauf. Lyn musste nicht lange suchen. An der Tür rechts neben der Treppe war ein knallrotes Porzellanschild angeschraubt. »Judith« lautete der Schriftzug neben einem witzigen Raben.
Lyn öffnete die Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen. Sie wusste selbst nicht genau, was sie erwartet hatte. Vielleicht einen unangetasteten Raum. Oder einen völlig renovierten. Auf jeden Fall nicht dieses Durcheinander von Kisten und Möbeln.
»Ist das das Zimmer der Tochter?«, fragte der Staatsanwalt, der sich einen Überblick über die Zimmer im oberen Stockwerk verschaffen wollte und über Lyns Schulter lugte.
Lyn nickte und ging weiter in das Zimmer hinein. Sie streifte ihre Handschuhe über und öffnete das Fenster ganz, damit Frischluft die abgestandene Luft ersetzte. »Anscheinend wollte Werner Schwedtke auch Judiths Zimmer renovieren.« Sie deutete auf die Umzugskartons.
Bis auf einen waren alle Kartons geschlossen. Lyn öffnete die nicht beschrifteten Kartons einen nach dem anderen. Bücher, Dekorationsgegenstände, Fotografien in Bilderrahmen, Kissen, Stofftiere, CD s und DVD s befanden sich darin.
Meier verzog sich mit einem »Na dann, frohes Schaffen, Frau Harms«.
Lyn zog einen großen Bilderrahmen aus einem der Kartons. An die zwanzig Fotos hatte Judith hinter dem Glas kreuz und quer angeordnet. Fotos von sich allein, mit ihrer Freundin
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