Tod in Wacken (German Edition)
Judiths letzte Frage können wir beantworten«, sagte Volker Aschbach. »Nichts hat sie getan. Hat alles für sich behalten. Und anscheinend das Tagebuchschreiben eingestellt.«
»Wie grässlich«, sagte Lyn, während sie noch einmal die krakeligen Zeilen überflog. »Das klingt nach K.o.-Tropfen, oder?«
Volker Aschbach nickte. »Und wir können wohl davon ausgehen, dass sie mit dem ekligen Zeug Sperma meinte.«
»Kein Wunder, dass Schwedtke durchgedreht ist, als er das Buch gefunden hat«, meinte Wilfried. »Andererseits hat sie nur diese vagen Andeutungen bezüglich des Ventilators im Gartenhaus gemacht. Keine Namen. Nichts. Bisschen wenig, um die drei Mieter einfach abzuknallen, oder?«
»Nicht wirklich«, murmelte Lyn, die zurückgeblättert und weitere Seiten angelesen hatte. »Judith schreibt hier andauernd etwas über die drei. Hier, am Festival-Freitag steht zum Beispiel …«, sie tippte auf die aufgeschlagene Seite, »›Tommy ist sooo süß! Und wie er mich manchmal anguckt! Mistig, dass er ’ne Freundin hat‹.« Lyn sah die Männer an.
»Sie hat überall Herzchen gemalt. Und hier steht auch noch etwas über Andreas Stobling und Henning Wahlsen. Sie schreibt: ›Ich glaube, Andy will was von mir. Andauernd nennt er mich Sweety. Voll ätzend. Tommy dürfte mich gerne mal Sweety nennen. Hab heute extra mein Top mit dem tiefen Ausschnitt angezogen, aber Tommy guckt nicht mal. Nur der blöde Henning. Arschloch‹.«
Lyn sah auf. »Den mochte sie anscheinend nicht. Sie hat einen Würg-Smiley daneben gemalt.«
»Langsam lichtet sich der Nebel«, sagte Wilfried. »Schreib alles raus, was wichtig ist, Lyn. Vielleicht stecken in dem Tagebuch noch mehr brauchbare Hinweise für uns.«
Mit Blick auf ihre Armbanduhr sagte Lyn: »Ich würde das gern zu Hause erledigen. Dann kann ich vorher mit meinen Töchtern gemeinsam zu Abend essen. Sie haben mich in den letzten drei Tagen kaum zu Gesicht bekommen.«
»Natürlich, Lyn. Essen ist übrigens eine gute Idee.« Wilfried sah seinen Hannoveraner Kollegen an. »Wenn wir hier durch sind, lade ich Sie zu einem schönen Steak in den hiesigen Landgasthof ein.«
* * *
»Hallo? Einer zu Hause?« Lyn schlüpfte aus den Sandaletten, nachdem sie den Schuhkarton neben der Kristallschale auf der kleinen Flurkommode abgestellt hatte.
»Hallo, Mama.« Sophie streckte den Kopf aus ihrer Zimmertür. »Gut, dass du schon da bist. Carmen hat gerade angerufen und gefragt, ob wir bei ihr grillen wollen. Falls du mitkommst, sollst du dir Rotwein mitbringen. Sie hat nur Bier und Saft.«
Die Vorstellung, nicht mehr kochen zu müssen, behagte Lyn außerordentlich. »Ich liebe Carmen«, sagte sie zu ihrer Jüngsten, die die Treppe hinuntergehüpft kam.
Sophies Mund verzog sich. »Sag ihr das bloß nicht.«
Carmen Schnitzel, seit einigen Monaten ebenfalls Anwohnerin am Wewelsflether Friedhof, hatte in der kurzen Zeit der Nachbarschaft Sophies Zuneigung gewonnen. Carmens sexueller Ausrichtung konnte Lyns Tochter allerdings nach wie vor herzlich wenig abgewinnen.
»Carmen hat doch nur Augen für ihre Andrea«, lachte Lyn. Sie griff nach der Katze, die vom Küchenhocker gesprungen war und um ihre Beine strich. Das schnurrende Tier an ihre Brust gedrückt, fragte sie: »Wo steckt Lotte?«
»Oben. Ich soll dir von ihr sagen, dass Opa gesagt hat, dass du ihn bitte mal anrufen sollst.«
Lyn verdrehte die Augen. Charlottes Ankündigung – nach Lyns Wacken-Verbot –, in den Sommerferien kein Wort mehr mit ihrer Mutter zu wechseln, hatte anscheinend noch Gültigkeit.
»Oh, neue Schuhe?«, sagte Sophie und ging zu der Kommode. In dem gleichen Moment, in dem sie den Karton öffnete, zuckte sie auch schon zurück und ließ den Deckel fallen. »Wah! Was –?« Sie starrte vom Inhalt des Kartons zu Lyn.
Lyn setzte die Katze ab und griff in den Karton. »Darf ich vorstellen: Das ist Goliath. Goliath …«, sie hielt die Schildkröte direkt vor Sophies Gesicht, »das ist Krümel.«
Sophie starrte das Reptil mit dem gelb-grauen Panzer mit großen Augen an. »Das ist eine Schildkröte.«
»Kluges Kind.«
»Was macht die hier?«
»Ich dachte, sie kann bei uns wohnen. Sie hat zurzeit niemanden, der sich um sie kümmern kann.«
»Lotteee!« Sophies fröhlicher Schrei drang durch das Treppenhaus.
Oben öffnete sich eine Tür. »Was ist?«
»Komm gucken! Wir haben eine Schildkröte. Mama hat sie mitgebracht. Süß ist die.« Sophie hatte Lyn das Tier bereits aus der Hand genommen und
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