Tod in Wolfsburg (German Edition)
bringen. Das Pflichtprogramm. Für beide.
Seit dem letzten Besuch vor einem Dreivierteljahr hatte sie sich
nicht verändert. Klein und dürr, mit zerzaustem Haarschopf und faltigem Gesicht
stand sie in der halb geöffneten Wohnungstür und starrte Johanna aus dunklen
Augen entgegen. Der gleiche, zunächst ungläubig skeptische Blick, gefolgt von
Stirnrunzeln und schließlich einem leichten Kopfschütteln. »Du?«
»Ja – ich. Kann ich hereinkommen?«
»Ich hab nichts weiter vor heute.« Gertrud Krass schob die Tür auf
und ließ Johanna eintreten. »Willst du einen Kaffee? Oder hast du nicht so viel
Zeit?«
Bevor sie sich umdrehte und vorausging, machte sie ein Geräusch, das
sich schwer einordnen ließ – ein Zischen oder Räuspern; vielleicht auch ein
kleines, meckerndes Lachen. Auf jeden Fall hatte Johanna dieses Geräusch noch
nie bei einem anderen Menschen gehört.
»Kaffee ist eine gute Idee.« Johanna folgte ihr in die Wohnküche, wo
es nach Bratkartoffeln und Essig roch.
Es war schummrig in der engen Wohnung. Verbrauchte Luft, die das
Atmen schwer machte. Alte Tapeten, verschlissene Möbel, sechziger Jahre und gar
nicht romantisch – trotz der kleinen Vasen und Tierfiguren, die auf dem
Küchenschrank aufgereiht waren. Gertrud Krass trug Pantoffeln und einen Kittel,
der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Vor Jahren hatte Johanna ihrer
Mutter einmal finanzielle Unterstützung angeboten und sich eine so barsche
Abfuhr eingefangen, dass sie das Thema nie wieder erwähnte.
»Du hast nicht gesagt, dass du kommst, oder habe ich das nur
vergessen?« Johannas Mutter setzte Wasser auf und stellte eine Kanne bereit.
»Setz dich.«
Ein vergilbtes Wachstuch bedeckte den Küchentisch. Johanna schob
einige Krümel, eine Obstschale und einen Stapel mit abgegriffenen
Frauenzeitschriften beiseite.
»Nein, ich habe mich nicht angekündigt. Es ging alles ein bisschen
schnell – ich habe beruflich in Wolfsburg zu tun.«
Gertrud Krass löffelte Kaffeemehl in den Filter und zählte halblaut
mit. »Drei, vier … Was meinst du – beruflich? Jagst du jetzt etwa hier
Verbrecher? Habt ihr denn keine eigenen in Berlin?« Sie feixte und zählte dann
weiter. »Fünf und noch einen halben Löffel für die Kanne, zur Feier des Tages
sozusagen. Wann bequemt sich denn schon mal meine Tochter zu mir?«
»Mutter, ich habe mal hier, mal da, mal dort zu tun, das habe ich
dir doch schon so oft erklärt …«
Gertrud winkte ab. »Ach ja, mag sein. Nicht so wichtig. Verbrecher
sind Verbrecher – egal wo, oder? Worum geht es denn diesmal?«
»Um ein totes Kind.«
Johannas Mutter zuckte zusammen. Der Kessel pfiff. Sie goss auf. Die
Küchenuhr tickte laut und eindringlich.
»Willst du Milch?«
Johanna seufzte. »Nein danke.« Sie trank ihren Kaffee schon seit
Ewigkeiten schwarz.
»Willst du auch wieder ins Heim, die Alte besuchen?« Gertrud Krass
öffnete den Schrank über sich und holte zwei Tassen heraus. »Brauchst du einen
Unterteller – nö, oder? Macht nur unnötig Arbeit.«
Johanna schüttelte den Kopf. »Gib mir einfach einen der großen
Kaffeebecher.«
»Dass du das Zeug so pechschwarz überhaupt herunterkriegst.« Gertrud
schüttelte den Kopf, während sie zwei Tassen auf den Tisch stellte. Eine
gelbgraue Haarsträhne rutschte ihr ins Gesicht. Sie strich sie unwillig zurück,
holte Milch aus dem Kühlschrank und setzte sich mit leisem Ächzen zu Johanna an
den Tisch. »Wie dein Vater. Der hat auch immer nur schwarzen Kaffee getrunken.
Für meinen Geschmack seid ihr beide euch viel zu ähnlich.«
Den Satz hörte Johanna auch nicht zum ersten Mal. Gleich erwähnt
sie, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist und schon allein deshalb dem
Genuss von schwarzem Kaffee zu misstrauen sei, dachte sie und schluckte die
Bemerkung unerwidert herunter, auch nicht zum ersten Mal.
»Du weißt, dass sein Herz nicht mehr mitgespielt hat – kein Wunder
bei all dem schwarzen Kaffee. Aber dein Vater war sowieso ein Idiot, ein
ziemlich großer sogar. Habe ich das schon mal von mir gegeben?« Gertrud grinste
plötzlich. Immerhin.
»Ungefähr sechzigtausend Mal, seit er uns verlassen hat.«
»Kein schlechter Schnitt für zweiunddreißig Jahre.«
Sie zählt immer noch die Jahre, seit er gegangen ist, um eine neue
Familie zu gründen, dachte Johanna, aber sie wunderte sich nicht wirklich
darüber.
»Also – willst du zur Oma?«
»Ja – wenn ich die Zeit finde, werde ich im Seniorenheim
vorbeischauen und sie
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