Tod in Wolfsburg (German Edition)
ein tragischer Unfall geschehen war,
dessen Hintergründe eindeutig schienen und mit denen wir uns abzufinden hatten.
Und meine Frau wollte zumindest mit dem äußeren Abschließen beginnen –
verständlicherweise, finden Sie nicht?«
Johanna nickte nur. Er hatte natürlich recht. Woher hätte er wissen
sollen, dass eine Kommissarin Wochen, Monate später Interesse an Karens
Chatfreunden und Mailkontakten haben könnte? Die Milberts gehörten zu den
Eltern, die möglichst eilig Spuren tilgen wollten – in der ebenso verzweifelten
wie trügerischen Hoffnung, dann schneller vergessen zu können. Anders als die
Mütter und Väter, die monate-oder gar jahrelang die Zimmer ihrer toten Kinder
nicht veränderten, um die Nähe zu einer Normalität aufrechtzuerhalten, die
unwiderruflich zerstört war.
Milbert nahm sich eine neue Zigarette und sah sie an. Er hatte tiefe
Ringe unter den Augen. »Können wir zurückgehen? Ich würde das Gespräch gerne
beenden.«
»Ja – natürlich, sofort. Eine Frage noch. Sagt Ihnen der Name
Philippa etwas?«, schob Johanna rasch hinterher. »Philippa Hummel.«
»So heißt das Mädchen, das meine Mutter beschuldigt, nicht nur mit
ihrem Sturz, sondern auch mit Karens Tod etwas zu tun zu haben.«
»War sie je bei Ihnen zu Hause? Ist das ein Mädchen, mit dem Karen
häufiger mal zusammen war oder hat sie je von ihr erzählt?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Allerdings – ich bin viel unterwegs,
und ehrlich gesagt war ich vielleicht nicht immer auf dem allerneuesten Stand,
was Karens Freundinnen oder neue Bekanntschaften anbelangte …« Er verlagerte
das Gewicht von einem Bein aufs andere.
»Karen hat sich an jenem Abend mit Philippa und drei anderen Mädchen
getroffen – eine ging in ihre Klasse, die anderen sind ebenfalls Kreuzheider
Schülerinnen –, um dann zusammen in die Diskothek zu gehen.«
»Ja, ich weiß. Sie hat unbemerkt das Haus verlassen.«
Johanna kramte rasch die Akte hervor und schlug die Liste von
Reinders auf. »Sagen Ihnen zum Beispiel die Namen Lola, Nelli, Rabea etwas?
Sind das Freundinnen Ihrer Tochter gewesen, die Sie auch mal persönlich
kennengelernt haben?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Mir ist nur ein Name geläufig, Betty
Flint – das ist eine Klassenkameradin, mit der sie in letzter Zeit häufiger mal
zusammen war oder telefoniert hat.« Er wirkte für einen Moment erleichtert.
Johanna nickte. »Okay. Lassen Sie uns umdrehen. Ich danke Ihnen.«
Später Nachmittag. Sofia Beran war es tatsächlich gelungen, gleich
für den nächsten Morgen Termine in der Schule und später dann einen Besuch bei
Waltraud Milbert zu vereinbaren. Sie informierte Johanna, als die gerade ihr
Headset aufgesetzt hatte und in Richtung Innenstadt fuhr. Plötzlich spürte
Johanna, wie die Erschöpfung in ihr hochstieg. Sie hatte Hunger, und ihr Kopf
schmerzte.
»Ich komme kurz vorbei und hole mir noch die Akte vom
Gerichtsmediziner ab«, sagte sie. »Und dann sind Sie mich für heute los.«
»So würde ich das nicht ausdrücken.«
»Ich schon.«
»Wie Sie meinen – einen erholsamen Feierabend wünsche ich Ihnen.«
»Danke, Ihnen auch, Sofia. Ach, übrigens, Ihre Arbeitsweise gefällt
mir.«
»Freut mich«, sagte Beran, und sie klang auch so.
Johanna war über sich selbst erstaunt. Normalerweise bewertete sie
die Arbeit von Kolleginnen oder Kollegen nur selten in ausführlicher positiver
oder gar herzlicher Weise.
Am liebsten wäre sie nach dem Abstecher bei der Kripo sofort ins
Hotel zurückgekehrt, um sich mit der Akte zu beschäftigen, noch einige
Telefonate zu erledigen und dann zu versuchen, bei einem guten Abendessen
abzuschalten. Ein Glas Wein, um die nötige Bettschwere zu bekommen. Vor dem
Fernseher oder mit Kopfhörern auf den Ohren. Harfenmusik. Kaum jemand traute
ihr das zu: Johanna und Harfe? Für manche klang das wie ein Witz. Aber das
Lachen blieb ihnen im Halse stecken, wenn sie Johannas Blick begegneten.
Es fiel ihr immer schwer abzuschalten – gerade zu Beginn eines neuen
Falls, und erst recht, wenn es um Kinder ging. Noch dazu in dieser Stadt, wo an
jeder zweiten Ecke Erinnerungen auf sie warteten. Keineswegs nur angenehme.
Johanna seufzte, als sie den Weg zur City einschlug. Sie wusste, dass ihre
Mutter stinksauer werden würde, wenn sie erfuhr, dass sie schon seit einem Tag
in Wolfsburg war und sich nicht meldete. Oder besser ausgedrückt: Johanna
vermutete, dass Gertrud Krass so reagieren könnte und wollte ihren
Anstandsbesuch hinter sich
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