Tod in Wolfsburg (German Edition)
Renault
abschloss. Ein Mann mit kurzem Haar, in dem eisiges Grau überwog, kam ihr
entgegen. Sie wusste, dass er Ende vierzig war, aber er wirkte älter.
Dreitagebart in der Farbe kalter Asche. Kantiges Kinn mit einem
Kirk-Douglas-Grübchen, dunkelgrüne Augen, gefütterte Lederweste,
Rollkragenpullover und ausgewaschene Jeans. Der Typ Mann, dem man sich,
verschollen irgendwo in der Wildnis, bedenkenlos anvertrauen würde – auch
Johanna. Sie war erstaunt über den Gedanken. Es kam höchst selten vor, dass ihr
ein Mann auf Anhieb gefiel – auf diese Art gefiel – und spontan Vertrauen in
ihr weckte.
»Frau Krass? Kommissarin Krass?« Er streckte die Hand aus, als sie
nickte. Fester Griff. Auch die Stimme passte – ein wenig rau, etwas müde. »Ich
bin Moritz Milbert. Was halten Sie von einem kleinen Spaziergang?«
»Gute Idee. Ich habe heute schon wieder viel zu lange gesessen«,
erwiderte Johanna.
»Nur ein paar Schritte von hier gibt es einen kleinen Teich – da
könnten wir uns die Beine vertreten.«
Johanna kannte natürlich den Mühlenteich, der von einem gepflegten
Grünstreifen umgeben und für kleinere Rundgänge durchaus geeignet war, aber es
war der falsche Moment, ihre besondere Beziehung zu Wolfsburg zu erläutern.
Moritz Milbert kramte im Gehen Zigaretten und Feuerzeug aus der
Innentasche seiner Weste. Er wandte ihr das Gesicht zu.
»Mögen Sie vielleicht auch …?«
Johanna schüttelte den Kopf. »Nein, danke, das habe ich hinter mir.
Glücklicherweise.«
»Hatte ich auch«, sagte Milbert, als sie die Häuser passiert hatten
und auf den Weg, der um den Teich herumführte, einbogen. Ein frischer Wind
kräuselte die Wasseroberfläche.
Johanna hätte am liebsten gar nichts gesagt. Keine Fragen gestellt
und in Wunden herumgebohrt, die noch in Jahren schmerzen würden. In
Jahrzehnten. Aber das war ihr Job. Rauch stieg ihr in die Nase. Milbert
inhalierte tief.
»Was war Ihre Tochter für ein Mädchen?«, fragte die Kommissarin
leise. »Wofür hat sie sich interessiert? Was waren ihre Stärken? Ihre
Schwächen?«
Milbert stopfte eine Hand in die Tasche seiner Jeans und warf ihr
einen kurzen Blick zu. »Sagen Sie, Frau Krass – all das ist wirklich erneut
nötig? Neue Fragen, neue Ermittlungen? Meine Frau erträgt das überhaupt nicht
mehr, und auch ich bin …«
»Ich weiß, und ich würde Ihnen das gerne ersparen, glauben Sie mir
das bitte. Aber es haben sich im Nachhinein Fragen ergeben, denen wir nachgehen
müssen. Wir haben keine andere Wahl. Nur darum bin ich hier.«
Milbert erstarrte für einen Moment. »Sie wollte Sprachen studieren«,
begann er dann abrupt zu erzählen. »Sie war sauer, wenn sie Pickel entdeckte.
Sie spielte gerne Hockey, und sie mochte Liebesfilme und hat laute Musik
gehört, wenn sie von der Schule nach Hause kam. Sie liebte SpongeBob und
verabscheute Tokio Hotel. Ein ganz normales Mädchen also. Meine Tochter. Und
ich dachte, dass ich sie einigermaßen kannte, aber …« Er verzog das Gesicht.
»Vielleicht stimmte das gar nicht. Viele Eltern verlieren in dem Alter den
Kontakt zu ihren Kindern und sind erschüttert, wenn sie mitkriegen, was sich im
Leben ihrer Söhne und Töchter wirklich abspielt. Oder abgespielt hat.«
»Halten Sie es für möglich, dass …?«
Milbert blieb unvermittelt stehen. »Ich hasse diese Frage! Und
wissen Sie auch warum? Weil ich die Antwort nicht weiß beziehungsweise nicht
mehr hundertprozentig weiß! Und je mehr Zeit vergeht, desto unsicherer und
verwirrter werde ich – und das ist mein Problem, verstehen Sie?« Er setzte sich
langsam wieder in Gang. »Plötzlich wird alles möglich, und ich bin entsetzt
darüber. Noch vor einigen Monaten habe ich völlig fassungslos reagiert, als man
uns mit der Tatsache konfrontierte, dass Karen nachts in die Disco geht,
trinkt, offensichtlich einen Freund hat, mit dem sie schläft, Drogen nimmt …
Unmöglich, habe ich gesagt. Eine Verwechslung, ein Missverständnis, jede andere,
aber doch nicht Karen, nicht unsere Tochter. Inzwischen …«
Johanna nickte ihm zu.
»Inzwischen … weiß ich gar nichts mehr«, fuhr er fort. »Natürlich
hat es auch bei uns Diskussionen gegeben und Streit. Sie war zwischendurch auf
einmal so dickköpfig, eigenbrötlerisch, mies gelaunt, aber ist das nicht normal
für eine Fünfzehnjährige? Die brauchen doch Zeit und Raum für sich und wollen
sich ihr eigenes Leben, ihre eigenen Wertigkeiten und Beziehungen aufbauen,
ohne dass ständig die Eltern Einsicht haben.
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