Tod in Wolfsburg (German Edition)
nur ein. Schatten
an den Wänden, die sich zu Alpträumen verdichteten. Ich weiß es nicht. Mein
Herz war nur noch eine wunde, pochende Stelle, entzündet, krank und nichts als
Angst. Ich zeigte ihnen mein Handy, um zu beweisen, dass ich alles gelöscht und
nichts weitergeleitet hatte. Aber das war ja gar kein Beweis. Irgendwann ließen
sie mich dann doch in Ruhe – als die Polizei aufhörte, Fragen zu stellen. Erst
seitdem begreife ich wirklich, dass Karen tot ist. Ich wünschte, ich könnte
glauben, dass es ein Unfall war. Aber das ist lächerlich. Nichts an ihrem Tod
ist zufällig. Und tragisch ist, dass die Schuldigen nicht dafür bezahlen
müssen. Ich schiebe alle Gedanken, die mit Karen zu tun haben, weit von mir.
Ganz weit. Im Schlaf kommen sie zurück. Dann sind sie zu doppelter Größe
angewachsen, mächtig und wild, und sie zerren an mir wie böse Geister.
Seit ein paar Tagen wird wieder ermittelt. Eine Kommissarin war
hier. Ich weiß nicht, was der Auslöser war. Vielleicht hängt es mit Karens
Großmutter zusammen. Die hat nämlich keine Ruhe gegeben. Genau wie Karen. Ich
bin sicher, dass eine von ihnen die Oma auf die Straße gestoßen hat.
Und die Krähen sind auch wieder aktiv geworden. Ich halte das nicht
mehr aus. Verstehst du, Lisa? Ich will, dass es aufhört – sofort und endgültig!
Damit endete die Mail. Lisa griff zum Telefon, aber bei ihren Eltern
nahm niemand ab. Sie wählte Bettys Handynummer – auch hier erklang nur das
Freizeichen, das klagend in der Nacht verhallte. Schließlich wählte sie die
Nummer der Wolfsburger Polizei.
17
Dr. Kasimir war ein haariger Mensch: Vollbart, buschige Brauen,
unter denen braune Augen hervorlugten, und dunkle Locken rahmten sein Gesicht
ein. Er hatte bemerkenswert schlechte Zähne, und er brauchte einen Moment, um
sich an Johanna zu erinnern.
»Ach ja, richtig – wir waren ja für heute Abend verabredet.« Er
schlug sich vor die Stirn und stand dann sofort auf, um der Kommissarin die
Hand zu geben. »Nehmen Sie sich irgendeinen Stuhl da hinten aus der Sitzecke,
ich suche schon mal die Akte heraus.«
Das schien einfacher gesagt als getan, denn Kasimir gehörte offenbar
zum Typ Wissenschaftler, der ein gewisses Chaos um sich herum pflegte. Ordner,
Papiere, Bücher, Stifte, Notizzettel und zig Kaffeetassen hatten seinen
Schreibtisch förmlich geflutet, und er brauchte einige Minuten, um das Gesuchte
zu finden. Währenddessen zog Johanna sich einen wackligen Holzstuhl heran und
ließ das vollgestopfte Büro des Gerichtsmediziners auf sich wirken. An der Wand
hinter Kasimir hing ein überdimensionaler Wochenplaner mit zig unleserlichen
Eintragungen neben dem Bild des Zunge herausstreckenden Albert Einstein.
»Karen Milbert«, murmelte er schließlich. »Ja – ein furchtbarer
Fall. Sie ermitteln da also noch mal. Das ist gut.«
»Staatsanwalt Reitmeyer hat in einem längeren Gespräch durchblicken
lassen, dass Sie nicht an die Version von einem tragischen Unfall glauben. Habe
ich das richtig wiedergegeben?«
Kasimir zog beide Augenbrauen hoch. »Sagen wir so: Ich halte es für
sehr unwahrscheinlich, dass das Mädchen mit dem Drogenmix lange durch die
Gegend gelaufen ist, wie es in dem Polizeibericht anklang, und von einer
lustigen Mitternachtsparty irgendwo am Kanal und einvernehmlichem Sex
auszugehen, wenn K.-o.-Tropfen im Spiel sind … Also, ich weiß nicht.«
»Ihre Untersuchungen haben andererseits jedoch auch ergeben, dass
die Dosis sehr gering war«, bemerkte Johanna. »Gerade eben noch nachweisbar, um
den Staatsanwalt zu zitieren. Und Kommissar Reinders hat keine weiteren
Indizien für ein Gewaltverbrechen gefunden.«
»Ja, das stimmt. Dennoch …« Er wiegte den Kopf von einer Seite zur
anderen. »Vielleicht hat sie die Tropfen schon einige Zeit vorher bekommen. Das
kann man zumindest nicht ausschließen.«
»Die Mädchen, mit denen Karen unterwegs war, sagen unisono aus, dass
sie jemanden kennengelernt hatte.«
Kasimir seufzte. »Das entkräftet den Vergewaltigungsverdacht nicht
unbedingt, oder? Ich bin skeptisch, Reitmeyer ist skeptisch, und Sie sind es
auch, obwohl Reinders keine Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen
sicherstellen konnte – sonst wären Sie nicht hier.«
»Richtig. Aber Skepsis allein …«
»Es gibt Verletzungen und Spuren an der Leiche, die – ich formuliere
es mal vorsichtig –, zumindest die Möglichkeit offenlassen, unterschiedliche
Ermittlungsansätze aufzugreifen und einer genaueren Überprüfung
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