Tod in Wolfsburg (German Edition)
zu
unterziehen.«
»Ich habe Ihren Bericht zwar inzwischen gelesen, allerdings
anlässlich des bevorstehenden persönlichen Termins mit Ihnen nicht im Detail
studiert«, gab Johanna zu. Außerdem war sie kein Fan medizinischer Analysen und
seitenlanger Beschreibungen von tödlichen Verletzungen, aber den Zusatz sparte
sie sich.
Kasimir zog einen Stapel Fotos aus der Akte. Johanna schluckte.
»Wissen Sie, Spekulationen und Mutmaßungen oder gar meine ganz
persönliche Meinung oder Gewichtung dieses oder jenes Aspekts gehören natürlich
nicht in einen sachlichen Bericht, der möglichst objektiv Tatsachen wiedergeben
sollte, doch sehen Sie mal … Nach dem Zusammenstoß mit einem Zug bleibt nicht
sehr viel von einem Körper übrig, wie ich nicht weiter zu erklären brauche«,
sagte er und reichte der Kommissarin ein Foto. »Karens rechte Hand. Sie ist
vergleichsweise gut erhalten. Man erkennt sogar noch den Stempel von der
Diskothek in der Handinnenfläche. Bemerken Sie den Striemen am Handgelenk?«
Johanna nickte. Wie ein zierliches Armband zog sich eine dunkle
Verfärbung um das schmale Gelenk.
»Eine vergleichsweise harmlose Verletzung, vielleicht ein kleiner
Bluterguss, könnte man annehmen, was völlig untergeht, wenn ein Körper so
zerstört wurde. Man könnte aber auch im persönlichen Gespräch mit Ihnen darüber
spekulieren, ob das Mädchen gefesselt worden ist«, führte der Rechtsmediziner
aus. »Zum Beispiel an die Bahngleise oder vorher im Rahmen einer
Vergewaltigung. Die zweite Hand ist leider völlig zerschmettert.«
Johanna starrte das Bild eine Weile wortlos an, bevor sie
hochblickte. »Haben Sie die Fußgelenke diesbezüglich überprüft?«
»Da gab es nichts mehr zu überprüfen.«
»Ich verstehe.«
»Andere Auffälligkeiten?«
»Ein Oberschenkel ist so erhalten, dass ein Tattoo zu erkennen ist,
das ziemlich frisch war.« Kasimir zog ein anderes Foto hervor. »Keine Ahnung,
ob das wichtig für Sie ist.«
Johanna versuchte über die grausamen Zerstörungen hinwegzusehen und
konzentrierte sich auf den kleinformatigen Abdruck. Ein schwarzer Vogel. Sie
stutzte. Eine Erinnerung versuchte wie eine Luftblase in ihr aufzusteigen. Sie
sah hoch. »Das könnte sogar sehr wichtig sein. Meinen Sie, ich könnte einen
Abzug von diesem Foto haben?«
»Kein Problem.« Er drehte sich zu seinem PC um und schaltete den Drucker ein, der mit lautem Getöse
seine Betriebsbereitschaft verkündete.
»Ich habe Spuren von Grasbüscheln und Erde gefunden«, fuhr Kasimir
fort. »Sie war vor ihrem Tod eindeutig irgendwo draußen nackt oder zumindest
halb nackt unterwegs gewesen. An der Kleidung, die sie trug, waren jedoch
außerdem Ölflecken – geringe Mengen, aber immerhin.«
»Öl? Was für Öl?«
»Motoröl.«
Johanna lehnte sich zurück. »Sie könnte in einem Wagen unterwegs
gewesen beziehungsweise transportiert worden sein«, überlegte sie halblaut und
schlug sich innerlich vor die Stirn.
Bislang waren alle Überlegungen immer davon ausgegangen, dass Karen
von Wolfsburg kommend zu Fuß am Allersee und Kanal umhergeirrt oder mit wem
auch immer herumspaziert war – ob nun freiwillig oder nicht freiwillig. Wenn
Vergewaltigung und Mord vorlagen, konnte sich jedoch durchaus jemand die Mühe
gemacht und das eventuell bewusstlose oder bereits tote Mädchen mit dem Auto
über Vorsfelde an den Kanal gebracht haben. Um Spuren zu verwischen. Um einen
Unfall vorzutäuschen. Karen war zierlich gewesen, und vom Ortsende bis zum
Kanalweg am Wäldchen und den Bahngleisen waren es nur wenige hundert Meter –
einsame Meter mitten in der Nacht. Bis auf ein paar Einfamilienhäuser und eine
Schule gab es dort nichts, und die Chance war ausgesprochen groß, dass von den
Anwohnern niemand etwas bemerkt hatte. Schon gar nichts so Auffälliges, dass
sich jemand Monate später daran erinnerte. Trotzdem … Fragen kostete nichts
oder nur ein bisschen Mühe und Zeit.
»Danke, Dr. Kasimir«, sagte Johanna einen Moment später. »Sie haben
mich auf eine Idee gebracht.«
Kasimir lächelte und ließ seine schlechten Zähne sehen. »Gerne doch.
Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Es war schon spät und Johanna fühlte sich abgespannt und müde – reif
für den Feierabend, Zeit, die Gedanken zu sortieren und keine weiteren hinzuzufügen.
Oder einfach nur abschalten und schlafen. Traumlos schlafen. Ein wundervoller
Gedanke. Andererseits musste sie Grimich am nächsten Tag Bericht erstatten, und
wenn sie nichts wirklich Neues
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