Tod in Wolfsburg (German Edition)
vorzuweisen hatte, würde ihre Chefin sie
wahrscheinlich nach Berlin zurückbeordern. Reinders würde es freuen. Die Krähen
auch. Im Auto schlug sie die Wolfsburgkarte auf. Über die Schlesier-und
Westpreußenstraße konnte man fast bis an den Kanal heranfahren. Linker Hand lag
die Moorkämpeschule. Sie atmete tief durch und startete den Motor.
18
Das Training war schweißtreibend und erschöpfend gewesen, und
sie hatte es von der ersten bis zur letzten Minute genossen. Zwei-bis dreimal
in der Woche besuchte sie den Selbstverteidigungskurs, und inzwischen hatte sie
begriffen, dass es nicht nur darum ging, körperliche und geistige Fitness zu
erlangen sowie Muskeln, Härte, Reaktionsschnelligkeit und Selbstvertrauen
aufzubauen, um sich im Notfall wehren zu können. Es ging vor allem um die
geistige Präsenz und das Wahrnehmen des Augenblicks. Wachheit. Im Hier und
Jetzt bleiben. Nicht vorwärts-oder rückwärtsgewandt denken. Es hatte Monate
gedauert, bis es ihr zum ersten Mal gelungen war, völlig in einer
Bewegungsabfolge aufzugehen, und weitere Monate, eine andere Übung ähnlich konzentriert
und entspannt zu absolvieren und dabei den Ehrgeiz loszulassen, irgendetwas
erreichen zu müssen.
Sie hatte wieder zu lachen gelernt, und bis vor zwei Tagen war sie
davon überzeugt gewesen, auf einem guten Weg zu sein. Dann war die Kommissarin
aufgetaucht – aus dem Nichts. Einige Fragen, und Sandras Vorstellung von ihrem
neuen Leben hatte zu wackeln begonnen und war dann wie ein Kartenhaus
zusammengekracht. Wie das manchmal mit Vorstellungen so passierte. Nach der
Befragung war sie den ganzen Tag zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Alles
hatte wieder vor ihr gestanden – als wäre es wenige Stunden zuvor passiert und
nicht vor über einem Jahr. Sie war stolz, dass es ihr gelungen war, die Angst
am darauffolgenden Tag so weit in Schach zu halten, dass sie zur Arbeit fahren
konnte. Niemand hatte ihr Zittern bemerkt und die besonders blutig abgekauten
Fingernägel – jedenfalls sprach sie keiner darauf an. Und auch den heutigen
Arbeitstag hatte sie halbwegs gut überstanden, um dann abends zum Training zu fahren.
Sie war froh gewesen, nur an eines denken zu dürfen und zu müssen – an das, was
der jeweilige Augenblick ihr abverlangte. Nicht mehr und nicht weniger.
Unweit ihrer Wohnung an der Celler Straße fand sie einen Parkplatz.
Als sie aus dem Wagen stieg, war es kurz nach zehn, und ein unfreundlicher
Nieselregen fegte über Braunschweig hinweg und sprühte ihr ins Gesicht. Sie zog
die Sporttasche vom Rücksitz und stülpte sich die Kapuze ihres Anoraks über den
Kopf. Bis zur Haustür waren es vielleicht hundertfünfzig Meter. Sie ging
schnell. Als der Mann aus der diesigen Dunkelheit plötzlich wie ein Gespenst
neben ihr auftauchte, traf sie fast der Schlag vor Schreck. Sie blieb
stocksteif stehen. Ihr Herz raste, und sie vergaß innerhalb einer Sekunde, was
sie in ihrem Kurs gelernt hatte: Ruhe, Umsicht, Klarheit, aus der Linie gehen.
Der junge Mann trug eine schwarze Wollmütze und lächelte sie an.
»Entschuldigen Sie bitte, ich glaube, ich habe mich verfahren.
Kennen Sie sich aus in Braunschweig?«, fragte er höflich und sah sie aufmerksam
an.
Der Stein, der ihr vom Herzen fiel, wog schätzungsweise zehn Tonnen.
Sie lächelte zurück. »Ja, ein bisschen schon. Wo wollen Sie denn hin?«
»Ich suche die Celler Straße 26 b«, erklärte er. »Aber es ist
ganz dunkel hier, und ich weiß nicht so recht …«
»Gleich dahinten«, sagte sie. »Kommen Sie einfach mit, ich wohne da
auch.«
»Na, das passt ja prima – danke Ihnen.«
Er lächelte wieder, und Sandra wurde es leicht ums Herz. Es ist
alles in Ordnung, dachte sie – sogar in allerbester Ordnung. Ein junger Typ
fragt nach dem Weg, und ich reagiere völlig normal. Wie jeder andere auch. Sie
hatte sich gerade in Gang gesetzt, als der Mann neben ihr abrupt verharrte und
sich vor die Stirn schlug. »Ich bin aber auch ein Dussel! Die Blumen für meine
Tante habe ich im Auto liegen gelassen.« Er lachte. »Könnten Sie zwei Sekunden
warten?«
Sandra lächelte. »Klar doch.«
Er drehte sich winkend um und eilte an den Straßenrand zurück. Kurz
darauf hörte sie ihn fluchen.
»Scheiße – mir ist der Schlüssel heruntergefallen und unter den
Wagen gerutscht. Also, heute ist einfach nicht mein Tag. Das kann ja nur besser
werden.«
Sandra wandte sich um und ging langsam zu ihm. Der Mann hockte vor
einem roten Audi und tastete den Boden ab.
»Warten
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