Tod in Wolfsburg (German Edition)
ihr einen Moment ins Gesicht und schob sie dann zur Seite, um an
ihre hinter dem Rücken zusammengebundenen Hände zu gelangen. Er löste die
Fesseln. Sie nahm die Hände nach vorn und rieb sich die Gelenke, in die langsam
das Blut zurückströmte.
»Aber mach keinen Scheiß«, sagte er erregt und umfasste plötzlich
ihre Schultern. »Hörst du? Komm erst gar nicht auf die Idee, sonst ergeht es
dir richtig schlecht!«
Sandra schüttelte den Kopf, streckte die Arme aus und dehnte sie. Er
schob die Hose ein Stück herunter, sah ihr zu und wartete. Wie dumm manche
Männer doch waren, wenn es um Sex ging. Ein Hitzeschwall durchfuhr sie, als sie
spürte, dass es ihr ernst war. Sie erwiderte seinen Blick, ballte eine Hand zur
Faust und stieß sie ihm ansatzlos in die Hoden. Sein Gesicht war einen Moment
voller Staunen, bevor er den Schmerz wahrnahm. Mit der anderen Faust zerschlug
sie ihm das Nasenbein von unten in Richtung Stirn, noch bevor er aufschreien
oder einen Angriffsversuch unternehmen konnte. Wenn der Schlag mit der
richtigen Heftigkeit traf, drang das Nasenbein in die Stirnhöhle ein und konnte
den Mann töten – innerhalb kürzester Zeit. Er brach mit leisem Stöhnen
zusammen. Sandra wünschte sich seinen Tod. Auch dieser Gedanke war klar und
ruhig. Nie wieder konnte er ihr etwas tun, wenn er tot war – eine bestechend
einfache Logik.
19
Es war schon später Abend, als sie in den »Alten Wolf«
zurückkehrte. An acht Haustüren hatte sie geklingelt, aber wie sie schon
vermutet hatte, konnte sich niemand daran erinnern, in einer Sommernacht vor
drei Monaten etwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben. Blieb noch der Hausmeister
der Moorkämpeschule – ein alter Herr, der im Heimkehrerweg wohnte, hatte ihr
den Tipp gegeben, an der Schule nachzufragen, weil der neue Hausmeister häufig
abends noch zu tun hatte. Und dem entginge so schnell nichts. Das hatte er
zweimal mit gewichtiger Miene betont.
Johanna war so erschöpft, dass ihr alles Mögliche entgehen würde,
wenn sie nicht sofort Feierabend machte. Sie nahm sich ihr Essen mit aufs
Zimmer und schlang es achtlos hinunter, während sie noch eine
Mobilbox-Nachricht von Beran abhörte – in puncto Schulwechslerinnen hatte sich
bislang nichts Konkretes beziehungsweise nichts auf Anhieb Verwertbares
ergeben. Dann fiel sie ins Bett. Kein unruhiger oder quälender Gedanke hatte
mehr die Chance, ihren Schlaf zu vertreiben.
Als sie hochschreckte, war es stockdunkle Nacht, und ihr Handy
zappelte auf dem Nachttisch. Johanna tastete nach dem Lichtschalter und meldete
sich gleichzeitig schlaftrunken am Telefon.
»Ich hoffe sehr, dass es wichtig ist.« Sie blinzelte zum Wecker, der
gerade mal fünf Uhr anzeigte.
»Das ist es ohne Zweifel«, sagte Sofia Beran, und ihre Stimme klang
so aufgeregt, dass Johanna sofort wach war. »Ich bin gerade vom
Bereitschaftsdienst informiert worden – Betty Flint ist tot!«
»Was?« Johanna sprang aus dem Bett und begann, sich mit dem Telefon
am Ohr anzuziehen.
»Es sieht nach Suizid aus. Die ältere Schwester, die in Berlin
wohnt, hat von Betty eine beunruhigend klingende Mail erhalten. Weil sie weder
Betty noch ihre Eltern zu Hause erreichen konnte, hat sie die Polizei
alarmiert. Als die eintraf, war es schon zu spät. Betty hat sich die Pulsadern
aufgeschnitten … So sieht es jedenfalls auf den ersten Blick aus.«
Johanna starrte einen Moment auf die leere Wand vor sich. »Das darf
nicht wahr sein«, flüsterte sie.
»Treffen wir uns dort?«
Johanna versuchte, die Erstarrung abzuschütteln. »Ja – wir brauchen
die Spurensicherung vor Ort und …«
»Ist alles schon in die Wege geleitet.«
»Okay – bis gleich.«
Als die Kommissarin eintraf, kümmerte sich eine Psychologin um die
Eltern, und zwei Kriminaltechniker untersuchten die Leiche des Mädchens in der
Wanne sowie das Badezimmer, ein anderer sah sich in Bettys Zimmer um. Der
Laptop war eingeschaltet, und der Drucker warf gerade mehrere eng beschriebene
Seiten aus. Johanna nahm die Blätter an sich, als Beran zu ihr trat.
»Betty hatte gestern Abend keinen Besuch, sagen die Eltern«,
berichtete sie mit leiser Stimme. »Es hat ihres Wissens nach auch niemand
angerufen, und irgendetwas Besonderes ist ihnen nicht aufgefallen, abgesehen
davon, dass Betty seit Tagen schwer erkältet war, richtig krank, und sie haben
vermutet, dass sie früh eingeschlafen ist, so gegen zehn. Um sie nicht zu
stören, hat die Mutter später auch nicht mehr in ihr Zimmer gesehen, und da
Weitere Kostenlose Bücher