Tod in Wolfsburg (German Edition)
nicht nur darum, dass
eine alleine bestimmt.«
»Das habe ich aber von Lola und Nelli anders gehört«, wandte Johanna
ein. »Sie schildern Rabea als Anführerin, die weiß, was Sache ist, und der sich
gerne alle unterordnen, ohne zu widersprechen. Scheinbar habe ich da was falsch
verstanden. Erklärst du es mir mal genauer, Philippa?«
»Da gibt es nicht viel zu erklären.«
»Ich denke doch«, beharrte Johanna.
In dem Moment klopfte es leise. Beran öffnete die Tür und zog sie
wieder halb hinter sich zu. Johanna konnte einen leisen Gesprächswechsel hören
und erkannte die Stimme von Kiesel. Kurz darauf kam Sofia Beran zurück und
beugte sich zu Johannas Ohr hinunter.
»Er hat was gefunden und wartet im Nebenzimmer mit einem Laptop auf
Sie«, flüsterte die Polizistin.
Johanna stand auf. »Okay, bleiben Sie kurz alleine hier.«
Kiesel hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. »Ich habe zwei
Filmsequenzen gefunden beziehungsweise gelöschte Daten vom PC wiederherstellen können«, erklärte er
ohne Umschweife, als Johanna eintrat, und drehte den Bildschirm zu ihr herum.
»Die Qualität ist nicht sonderlich gut, es gibt keinen Ton, und Personen sind
nur bedingt zu erkennen, aber eines ist klar: Es handelt sich um unerfreuliches
Material.«
So konnte man es ausdrücken. Im ersten Ausschnitt stand Betty im
Mittelpunkt. Man sah das Mädchen nackt auf dem Boden liegen. Ein Mann mit einer
Wollmütze, die sein Gesicht völlig bedeckte, beugte sich über sie. Das Bild
schwenkte herum, und man sah die beiden nackten Körper in eindeutiger Stellung
und Bewegung. Ein Schwenk auf Bettys Gesicht. Sie weinte nicht, sie schrie
nicht. Sie wirkte höchstens ein wenig benommen oder sogar unbeteiligt, aber
letztlich stellte sich die Szene genauso dar, wie das Mädchen selbst sie in der
Mail an ihre Schwester beschrieben hatte: Eine Vergewaltigung konnte aus der
Sequenz ganz und gar nicht abgeleitet werden. Und auch von den Krähen war
nichts zu sehen.
»Scheiße«, sagte Johanna. Sie sah Kiesel an. »Auf welchem PC haben Sie das gefunden?«
»Sowohl auf Betty Flints als auch auf Philippas PC . Betty hatte den Film lediglich in
den Papierkorb ihres Programms verschoben, Philippa hatte ihn gar nicht
gelöscht.«
»Kann man davon ausgehen, dass der Film von einem PC zum anderen verschickt wurde, genauer
gesagt, dass Betty ihn per Mailanhang erhielt?«
»Durchaus.«
»Was haben Sie noch?«
Kiesel startete erneut die Wiedergabe. Eine ganz ähnliche Szene,
aber diesmal war es sehr dunkel, und es wirkte seltsam eng. Unstetes Licht
huschte durchs Bild, wahrscheinlich von einer Taschenlampe. Dann war plötzlich
Karen zu sehen. Halb nackt. In der nächsten Einstellung lag sie auf einer Decke
und wehrte sich gegen einen Mann, der auf ihr lag und eine Mütze trug. Sein
Gesicht war nicht zu erkennen, sodass Johanna lediglich annehmen konnte, dass
es derselbe Typ war, dem Betty zum Opfer gefallen war. Beweisen ließ sich das
jedoch allein mit diesem Film nicht. Und obwohl Karens Bewegungen deutlicher
als Abwehrhandlungen aufgefasst werden konnten als Bettys Reaktionen, waren sie
eben nicht unmissverständlich zuzuordnen und reichten kaum aus, um von einer
Gewalttat auszugehen, geschweige denn von einem brutalen Verbrechen, das
schließlich mit einem Mord endete.
Beide Filme hatten nur einem Zweck gedient: die Opfer zu erpressen.
Johanna schloss kurz die Augen. Bei aller für sie gegebenen Eindeutigkeit sowie
vieler Indizien, die in eine Richtung wiesen, und trotz des Suizids von Betty
und ihrem Schreiben – konnte das einen Richter überzeugen? Durfte es ihn
überhaupt überzeugen? Und was würden findige Anwälte damit machen? Solange sie
nicht mehr hatte als das …
»Diese Szene stammt auch von Philippas PC «, erläuterte Kiesel.
»Bei den anderen war nichts Derartiges drauf?«
»Bis jetzt habe ich nichts entdecken können, aber ich bin auch noch
nicht durch. Ich habe die Arbeit nur unterbrochen, um Ihnen die ersten
Ergebnisse gleich zeigen zu können.«
»Können Sie feststellen, wenn Daten von einer Festplatte auf einen
externen Speicher verschoben worden sind?«
»Im Prinzip schon, aber wenn der Bereich der Festplatte bereits mit
anderen Daten überschrieben wurde, ist nichts mehr zu machen. Genauso ist es
übrigens mit Handydaten. Da die Geschichte schon eine Weile zurückliegt und der
Handyspeicher sehr viel kleiner ist als eine PC -Festplatte,
ist davon auszugehen, dass Nachrichten und Aufnahmen längst mit neuen
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