Tod in Wolfsburg (German Edition)
Kittel, der über seinem prallen Bauch spannte, und blickte ihr
stirnrunzelnd entgegen. Die grauen Haare waren nach hinten zurückgekämmt und
wirkten ein wenig ölig, und seine Hände hätten jedem Kfz-Schlosser Ehre gemacht.
»Mein Name ist Johanna Krass. Ich komme von der Polizei«, stellte
die Kommissarin sich vor.
»Ach ja, stimmt, da hat vorhin jemand angerufen. Da bin ich ja jetzt
mal gespannt, was Sie von mir wollen.« Er griente unerwartet fröhlich.
»Wir untersuchen noch einmal den Fall eines jungen Mädchens, das vor
drei Monaten hier ganz in der Nähe auf den Bahngleisen ums Leben gekommen ist«,
erläuterte Johanna. »Als ich mich gestern Abend in der Schlesierstraße in
mehreren Häusern erkundigte, ob sich jemand an etwas Ungewöhnliches erinnern
könnte, erhielt ich den Tipp, mich an Sie zu wenden. Es hieß, Sie hätten häufig
noch spät in der Schule zu tun und seien sehr aufmerksam.«
Wiesner griente gleich noch breiter. »Na ja, man tut, was man kann,
und ich bin es gewohnt, die Augen offen zu halten – nach allen Seiten hin. Wer
mit Kindern zu tun hat … Sie verstehen?« Er kratzte sich hinterm Ohr. »Aber
drei Monate ist natürlich eine lange Zeit … Im August, nicht wahr?«
»Ja, am 22. beziehungsweise 23. August, genauer gesagt, war es in
der Nacht von Freitag auf Samstag«, bestätigte Johanna.
»Mitten in der Nacht?«
»Ja, es dürfte zumindest sehr spät gewesen sein. Vielleicht
Mitternacht, vielleicht ein Uhr morgens oder sogar noch später.«
»Und was verstehen Sie unter ungewöhnlich?«
»Alles, was Sie stutzen ließ oder Ihnen jetzt im Nachhinein zu
denken gibt – Leute, die Ihnen auffielen, ein Auto, Geräusche, die nicht zur
Uhrzeit gepasst haben, und so weiter.«
Wiesner zog die Nase hoch, dann öffnete er eine Schublade unter dem
Tisch und beförderte einen Kalender heraus.
»Hin und wieder bin ich auch mal spät hier, aber mitten in der
Nacht?« Er blätterte mehrere Seiten zurück. »Überprüfung der Elektrik,
Fensterreparatur, Türen abgeschliffen«, las er die Einträge halblaut vor. »Tag
der offenen Tür, Sommerfest … Wasserrohrbruch.« Er sah hoch. »Warten Sie mal.«
Er runzelte die Stirn. »Das ist ja … hm. Vielleicht, aber …?«
»Erzählen Sie einfach«, unterbrach Johanna ihn rasch. »Alles
Mögliche kann wichtig sein.«
Wiesner kratzte sich am anderen Ohr. »Wie Sie meinen. Also, wir
hatten an dem Wochenende einen Wasserschaden, und ich habe sehr lange auf einen
Sanitärfritzen warten müssen beziehungsweise auf einen Notdienst. Es hieß, der
zuständige Typ hätte noch woanders einen Einsatz und ich müsste mich gedulden.
Außerdem käme er von außerhalb. Na ja, ich bin dann zwischendurch nach vorne
zum Haupttor und habe aufgeschlossen und immer wieder Ausschau gehalten, ob der
nicht endlich an Land kommt, aber der hat sich mächtig viel Zeit gelassen.
Irgendwann bin ich dann noch mal nach vorne gerannt, weil ich dachte, ich hätte
einen Wagen gehört. Ich hab nicht auf die Uhr gesehen, aber ja, es war schon
sehr spät … und ja, da fuhr tatsächlich ein Wagen, und zwar in Richtung Kanal
…«
»Was für ein Autotyp?« In Wolfsburg konnte man eine solche Frage
bedenkenlos stellen.
»Ich glaub, ein Transporter – VW natürlich –, helle Farbe, vielleicht sogar weiß. Jedenfalls dachte ich noch,
dass der Kerl vom Notdienst ein ziemlicher Idiot sein muss, wenn er direkt am
offenen Schultor vorbeidüst. Ich bin vorne stehen geblieben und zehn Minuten
später traf er dann ein – allerdings kam er von der anderen Seite und fuhr
einen blauen Kombi! Natürlich war mir dann sofort klar, dass der andere Wagen
gar nicht hierher wollte, und die Sache hätte mich wahrscheinlich nie wieder
beschäftigt, aber jetzt …«
»Er fuhr in Richtung Kanal?«, hakte Johanna noch mal nach. Sie war
plötzlich wieder hellwach.
»Ja, der Weg wird da immer enger und mündet schließlich in einen
Radweg am Kanal entlang.«
»Ja, ich weiß. Sie haben mir sehr geholfen.« Sie gab ihm die Hand.
Der Hausmeister griente. »Gerne doch.«
24
Duschen, Sachen packen und weg, egal, wohin! So lautete der
erste glasklare Gedanke, nachdem sie die Wohnungstür zweimal hinter sich
abgeschlossen sowie den Zusatzriegel vorgeschoben hatte und mit wummerndem
Herzen und hektischer Atmung in die Stille lauschte. Der zweite, der
pfeilschnell hinterherschoss: und dann? Tage-oder gar wochenlang in
irgendeinem Versteck hocken, eingeschnürt von der ständigen Angst, doch
aufgestöbert
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