Tod ist nur ein Wort
anwesend war. Vielleicht erwies sich das Schicksal doch als gnädig.
Sie hätte es besser wissen sollen. Einen Moment später tauchte er auf, ebenfalls mit einer Kaffeetasse in der Hand, und setzte sich auf den verbliebenen Stuhl neben ihr.
Beim Eröffnungszeremoniell hörte sie nur mit halbem Ohr zu. Eine Schweigeminute für den jüngst verstorbenen Kollegen Auguste Remarque. Sie hatte den Namen schon einmal gehört, wusste aber nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Sie überlegte, ob sie einfach jemanden danach fragen sollte. Aber vermutlich verhielt sie sich lieber still und möglichst unauffällig.
Es gab nicht viel, womit sie ihren Geist in den nächsten Stunden beschäftigen konnte. Die Vereinigung der Lebensmittelimporteure stritt über die Neuverteilung der Gebiete, und obwohl Chloe eine große Vorliebe für Lamm und Orangen und ein gut gebratenes Hähnchen hegte, kannte ihre Faszination doch Grenzen. Die Verhandlungen, bei denen sie dolmetschen sollte, waren sterbenslangweilig. Sie hatte Zahlen schon immer uninteressant gefunden, und Tausende von Hühnern und Ferkeln oder Tonnen von Getreide konnten nicht einmal die verhinderte Köchin in ihr begeistern. Die anderen am Tisch schien die Diskussion jedoch sehr zu bannen, und nach den Zahlen zu urteilen, mit denen man um sich warf, konnte sie sich auch vorstellen, warum. Ob in Euro, Pfund oder Dollar – man sprach über eine Menge Geld. Sie hatte nicht geahnt, dass Lebensmittelimporteure solche Reichtümer anhäuften.
Da sie am oberen Ende des Tisches saß, musste sie jedes Mal den Kopf wenden, um den jeweiligen Sprecher anzuschauen, sodass der Mann neben ihr ständig in ihrem Blickfeld war. Trotz ihres Argwohns schien er jedes Interesse an ihr verloren zu haben, ihre Anwesenheit kaum wahrzunehmen. Da er sowohl Französisch als auch Englisch sprach, brauchte sie für ihn nicht zu dolmetschen, sondern konnte sich zurücklehnen, das Papier vor sich vollkritzeln und so tun, als ob sie ihn ebenfalls ignorierte.
Es gab nur einen kritischen Moment während des langen Vormittags. Sie hatte ein Wort nicht verstanden – keine große Sache, zumal sie eigentlich fließend sprach.
“Was versteht man unter
‘Legolas’?”
, fragte sie. “Abgesehen davon, dass eine Figur in
Der Herr der Ringe
so heißt?”
Totenstille erfüllte den Raum, nur das Klappern einer Tasse auf dem Unterteller war zu hören. Alle starrten sie an, als hätte sie nach ihrem Sexualleben oder, schlimmer noch, nach ihrem Jahreseinkommen gefragt. Zum ersten Mal an diesem Tag wandte sich nun Bastien an sie.
“‘Legolas’ ist eine Schafrasse”, erklärte er. “Nichts von besonderem Interesse.”
Irgendjemand im Raum kicherte, sei es über seine kühle Beiläufigkeit oder über etwas anderes.
“Bitte stellen Sie keine Fragen, Miss Underwood, Sie sollen nur übersetzen”, wies Hakim sie an. “Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, finden wir jemand anderen. Wir möchten unsere Fortschritte nicht durch Inkompetenz behindert sehen.”
Chloe hatte auf öffentliche Kritik nie gut reagiert, und dass Hakim sie nicht leiden konnte, war schon lange klar. Zu diesem Zeitpunkt wäre ihr nichts lieber gewesen, als mit der Luxuslimousine zurück nach Paris chauffiert zu werden, um keinen dieser Menschen je wiederzusehen.
Keinen? Sie wandte den Blick von dem Mann neben ihr ab, doch sie wusste nur zu gut, dass sie nicht abfahren würde, bevor sie es musste.
“Ich bitte um Verzeihung, Monsieur”, sagte sie auf Französisch. “Wenn ich die Bedeutung eines Wortes nicht kennen muss, werde ich selbstverständlich nicht fragen. Ich dachte nur, es wäre von Nutzen, wenn ich eine bessere Sachkenntnis hätte.”
“Pass lieber auf, Gilles”, warf Monique mit heiserem Lachen ein. “Bastien würde es nicht gefallen, wenn du seinen kleinen Liebling feuerst.”
Bastien schaute hoch. “Eifersüchtig, meine Süße?”
“Hört auf damit!”, schnauzte Hakim. “Wir haben keine Zeit für diese albernen Zankereien.”
Bastien wandte sich zu Hakim, wobei ihm nichts anderes übrig blieb, als auch Chloe anzuschauen. Mit einem entwaffnenden Lächeln hob er kapitulierend die Hände. “Verzeih, Gilles. Du weißt, dass ich leicht abzulenken bin durch die Anwesenheit einer schönen Frau.”
“Ich weiß, dass du nur abgelenkt bist, wenn dir danach ist, und für die anderen gilt das Gleiche. Es steht zu viel auf dem Spiel, um Zeit mit diesen Kindereien zu vertrödeln. Dies ist zu wichtig.”
Enten und Schweine
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