Tod ist nur ein Wort
Ort war so klein, dass sie kein anderes öffentliches Gebäude entdecken konnte. Die Post würde mittags ebenfalls geschlossen sein, und falls es andere Geschäfte gab, befanden sie sich jedenfalls nicht in Sichtweite.
In ihrem Blickfeld lag nur die alte Kirche. Chloe unterdrückte ein plötzliches Schuldgefühl – dem kalten Regen zu entgehen war ein armseliger Grund, um eine Kirche zu betreten, doch sie hatte keine Wahl. Die Kirche befand sich an der Ecke des Marktplatzes – von dort könnte sie leichter nach Bastien Ausschau halten, und es wäre drinnen wärmer als hier draußen.
Sie hatte die Strecke halb zurückgelegt, als der Regen mit aller Macht losprasselte und sie bis auf die Haut durchnässte. Die zu engen Schuhe waren so hinderlich, dass sie sie auszog, um dann weiter zu dem mit Schnitzereien verzierten Holztor der Kirche zu laufen.
Es war ebenfalls verschlossen. Was für ein verdammter Ort war das eigentlich, in dem sie das Gotteshaus abschlossen? Was, wenn sie eine arme Sünderin auf der Suche nach Absolution oder einem Ort der Meditation wäre?
Nun, in den Augen der Kirche war sie eine arme Sünderin, auch wenn sie in den letzten Monaten nicht annähernd genug Gelegenheit zum Sündigen gehabt hatte. Doch offensichtlich gab es in diesem kleinen Ort tagsüber keine große Nachfrage nach seelischem Beistand. Sie drückte sich eng an das Tor, um sich so weit wie möglich vor dem Regen zu schützen, und sah zu, wie das Wasser in Rinnsalen über das Kopfsteinpflaster strömte, das sie nostalgisch fände, wenn sie sich darauf nicht fast die Knöchel gebrochen hätte. Es wurde kühler, und sie schlang fröstelnd die Arme um sich. In diesem Moment bemerkte sie, dass sie unterwegs die Bücher verloren hatte.
“Mist, verdammter”, fluchte sie vor sich hin, bis sie sich erinnerte, wo sie sich befand. Genau das hatte ihr noch gefehlt. Bastien war seit Stunden weg, und bei ihrem Glück würde er nicht zurückkommen. Sie würde in diesem unfreundlichen namenlosen Ort hängen bleiben, an Lungenentzündung sterben, und Sylvia müsste sich eine neue Mitbewohnerin suchen.
Zwei Scheinwerferkegel durchdrangen den Regen und erfassten sie, wie sie sich in den Toreingang schmiegte. Der Porsche hielt direkt vor ihr, und sie blieb stocksteif stehen, als Bastien das Fenster herunterließ. “Tut mir leid, ich bin spät dran”, sagte er, ohne im Geringsten bedauernd zu klingen. “Ich sagte Ihnen, Sie sollten einen Regenschirm mitnehmen.”
“Leck mich”, murmelte sie und hatte endgültig genug, als sie sich ihre Schuhe griff und noch einmal in den Regen hinaustrat. Sie stieg ein und schüttelte sich wie ein nasser Hund.
Er beschwerte sich nicht, wie sie eigentlich gehofft hatte. “Tut mir leid”, wiederholte er. “Wo sind die Bücher?”
“Hab sie verloren.”
“Sie sehen aus wie eine Vogelscheuche”, sagte er, während er sie kritisch beäugte. “Die Klamotten sind hin.”
Die dünne Seidenbluse klebte an ihrer Brust, an dem BH, der ihr zu klein war, und sie zog sie mit den Fingern von ihrer Haut weg. Sylvia liebte diese Bluse – sie würde ihr den richtigen Vorwand bieten, um Chloe zuvorzukommen und ihr die Schuld an dem ganzen Schlamassel zu geben.
“Ihnen ist kalt”, sagte er.
Chloe dachte über mehrere höchst ironische Antworten nach, widerstand aber der Versuchung. “Ja, mir ist kalt”, erwiderte sie und fröstelte, als sie nach dem Sicherheitsgurt griff. Ihre Hände zitterten zu stark, um ihn einzurasten, sodass sie es schließlich aufgab und sich in der Hoffnung zurücklehnte, damit den Ledersitz zu verderben.
Bastien hatte den Motor nicht gestartet – er schaute sie an. Oder zumindest nahm sie das an. Durch den Regen war es sehr dunkel im Wageninneren, und er hatte kein Licht angemacht. “Möchten Sie in ein Hotel, um aus den nassen Sachen rauszukommen?” Er hätte sie auch fragen können, ob sie ein Eis wollte, so beiläufig war sein Ton.
“Ich denke nicht”, entgegnete sie beißend. “Stellen Sie einfach nur die Heizung an, dann komme ich zurecht.”
Er ließ den Motor an und raste mit der gleichen selbstmörderischen Geschwindigkeit los wie auf der Hinfahrt, nur dass sie diesmal im Dunkeln und im Regen unterwegs waren und sie keinen Sicherheitsgurt angelegt hatte. Der Porsche mochte ein toller Wagen sein, aber seine Heizung ließ zu wünschen übrig, denn eine halbe Stunde später war ihr noch immer kalt. Sie fingerte an dem Sicherheitsgurt herum, damit sie im Falle, dass sie
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