Tod ist nur ein Wort
gepflegt erlebt, egal ob er jemanden umbrachte oder stundenlang auf dem Boden saß und Wein trank.
Sein langes Haar war zerzaust, er wirkte zerknittert und überraschend menschlich. Was Chloe noch mehr verstörte.
“Ich muss dein Privatleben ganz schön durcheinanderbringen”, entfuhr ihr, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte.
Er wühlte gerade in der Tüte mit Lebensmitteln und holte den Rest des Baguettes und die Orangen hervor. Mit einem seltsamen Ausdruck in seinen dunklen undurchdringlichen Augen wandte er sich zu ihr um.
“Was meinst du damit?”
“Na ja, du bist ja praktisch mit mir untergetaucht. Hast du keinen Partner oder irgendjemanden, der dich vermisst?” Sie machte die Dinge keineswegs besser, aber sie schien nicht aufhören zu können. Ihr alter Fehler: Sie redete einfach zu viel.
“Partner?”
“Du brauchst hier nicht Echo zu spielen”, entgegnete sie verärgert und verlegen. “Ich meine jemand Wichtiges. Jemand, mit dem du zusammenlebst …”
“Meinst du einen anderen Mann?” Er kam gleich zur Sache und wirkte dabei weitaus amüsierter, als ihr lieb war. “Du glaubst, dass ich schwul bin?”
“Ich versuchte, feinfühlig zu sein”, verteidigte sie sich. “Es schien naheliegend.”
“Und warum schien es naheliegend?”
Am liebsten hätte sie sich die Zunge herausgeschnitten. Wie zum Teufel hatte sich die Unterhaltung so entwickeln können? Warum hatte sie nicht einfach ihren Mund gehalten?
“Schon gut, Chloe”, sagte er, als sie nicht antwortete. “Du glaubst, dass ich schwul bin, weil ich dich nicht berühren will. Das ist es doch, oder?”
Es wurde schlimmer und schlimmer, und seine absichtliche Rohheit trieb ihr das Blut in die Wangen. “So eingebildet bin ich nicht.”
“Ach nein? Du hast nicht das Gefühl, dass, wenn ein Mann dich nicht anrührt, das nur daran liegen kann, dass er keine Frauen mag? Und warum interessiert dich mein Privatleben so? Ich dachte nicht, dass meine sexuellen Präferenzen irgendwie wichtig wären.”
“Sind sie auch nicht.”
“Und warum hast du dann danach gefragt?”
“Tu das nicht”, stammelte sie. “Es ist schlimm genug, mit dir in diesem dunklen Loch eingesperrt zu sein. Treib mich nicht auch noch verbal mit dem Rücken an die Wand. Ich war einfach nur neugierig.”
“Du befandest dich auch schon körperlich mit dem Rücken zur Wand. In mehr als einer Beziehung”, erwiderte er, und sie erinnerte sich nur allzu gut an die Momente im Château, als er in ihr gewesen war, und an die dunkle erschütternde Lust dabei.
“Es reicht”, rief sie mit erstickter Stimme.
Zu ihrer Verwunderung ließ er es dabei bewenden, setzte sich in sicherer Entfernung von ihr aufs Bett und reichte ihr das hart gewordene Baguette. “Wir haben keinen Käse mehr, aber die beiden Orangen sind noch übrig. Später werden wir dir eine ordentliche Mahlzeit besorgen.”
“Wo? Am Flughafen? Hat es aufgehört zu schneien?” Sie nahm den Kanten Brot und begann zu kauen.
“Ich war die ganze Zeit mit dir hier drin, Chloe. Ich weiß es genauso wenig wie du. Aber wir werden diesen Ort bald verlassen. Sich zu verstecken bedeutet, in Bewegung zu bleiben. Sie brauchen nicht lange, um uns hier aufzuspüren, und ich möchte fort sein, bevor sie kommen. Glücklicherweise wird der Schnee das Taxi bedeckt haben, sodass sie es selbst vom Hubschrauber aus kaum entdecken werden. Doch je eher wir hier rauskommen, desto besser.”
Das Brot schmeckte staubig, doch sie kaute weiter. “Wohin gehen wir?”
Er schälte eine der Orangen. Das Fruchtfleisch lag blutrot in seiner Hand, und obwohl der süße Zitrusduft den Raum erfüllte, lief Chloe ein Schauer über den Rücken.
“Ich weiß es noch nicht. Mach den Mund auf.” Er hielt ihr ein Stück Orange hin, doch sie schüttelte den Kopf.
Mit einer dieser blitzschnellen Bewegungen, die sie immer erschreckten, fasste er ihr Kinn. “Mach den Mund auf und iss die Orange, Chloe.”
Ihr blieb keine Wahl – nicht solange seine langen Finger ihr Gesicht umfassten, nicht solange seine dunklen Augen in dem unbewegten Gesicht sie anstarrten. “Mach den Mund auf”, wiederholte er, sanfter, fast verführerisch, und legte ihr das Stück Orange auf die Zunge, das süß und herb zugleich schmeckte.
Einen verrückten Moment lang glaubte sie, dass sein Mund und seine Zunge folgen würden. Doch er setzte sich zurück, und sie kaute langsam die Orange. Er wollte sie nicht, Gott sei Dank. Er würde sie in Sicherheit
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