Tod mit Meerblick: Schleswig-Holstein-Krimi
Ansichtskarten. Der Wind nahm ihr fast die Luft zum Atmen, und dennoch genoss sie die würzige Brise, die von der nahen Nordsee heranwehte, als sie abschloss. Dies war ihre Heimat, hier war sie geboren und hier würde sie wohl auch sterben.
Nordfriesland war für sie mehr als nur ein siebzig Kilometer breiter Fleck zwischen Nord- und Ostsee auf der Landkarte. Bente liebte die Einsamkeit hier draußen und vergaß für ein paar Minuten die Hektik und die Sorgen, die ihren Alltag plagten. Ärger mit der Bank, der Brief vom Finanzamt letzte Woche, der sie nächtelang um den Schlaf gebracht hatte, alles rückte hier draußen in unendlich weite Ferne. Bente atmete tief durch, schloss die Augen und lächelte wehmütig. Alles könnte so einfach sein.
An der Strandkneipe angekommen, fummelte sie umständlich den Schlüssel ins Schloss, schaltete die Alarmanlage ab und trat schließlich ein.
Der Geruch von abgestandenem Bier und kaltem Rauch hing schwer im Raum. Die Finger ihrer freien Hand wischten über die Wand neben der Tür; suchten und fanden den Lichtschalter. Feiner Sand knirschte unter den Sohlen ihrer Schuhe. Bente schob den Korb auf den kleinen Tresen und blickte sich im Gastraum um. Am Boden lag noch Sand, den der Wind durch die tagsüber offen stehende Schiebetür hereingetragen hatte. Die Tische wiesen unansehnliche Flecken auf, wo gestern Tassen und Gläser gestanden hatten. Die Putzfrau hatte schlampig gearbeitet – dafür würde Bente sie später zur Rede stellen. Zunächst musste sie alles für den kommenden Tag vorbereiten. Gegen elf würden die ersten Gäste erscheinen. Bis dahin musste der Laden blitzblank sein.
Bente betrat die Küche und schaltete erst einmal das Radio ein. Der kleine Apparat war auf die Frequenz von Radio Schleswig-Holstein eingestellt. Gleich gab es die ersten Nachrichten des neuen Tages aus der Region. Aber hier geschah selten etwas, hier war die Welt noch in Ordnung, dachte sie, während sie sich langsam beruhigte. Laut schallte die Musik aus den kleinen Lautsprechern, Bente sang ebenso laut, aber schief, mit und machte sich an die Arbeit. Zunächst wischte sie die Tische mit einem feuchten Tuch ab, dann kehrte sie den feinen Sand zusammen. Beiläufig glitt Bentes Blick durch die große Glasfront in den Freiluftteil. Dort hatten sie eine kleine Strandidylle mit Meerblick geschaffen. Es gab tonnenweise Sand, Tische, Bänke und Strandkörbe für die Gäste, die hier, windgeschützt hinter zwei Meter hohen Glasscheiben, auch bei unwirtlichem Wetter den Blick auf das Holmer Siel genießen konnten. Weiter hinten gab es einen kleinen Spielplatz für die jungen Gäste – sogar ein Abenteuerschiff aus Brettern hatte Ubbo aufgebaut. Eine Piratenflagge flatterte im Ostwind.
Dennoch war etwas anders. Bente verengte die Augen zu Schlitzen, als sie hinausblickte. In einem der Strandkörbe saß jemand. Sofort schlug ihr das Herz bis zum Hals. Wie war der Mann hierhergekommen? Der Bereich hinter dem Bistro war durch die Glaswände abgetrennt. Das Möwennest selber war über Nacht verschlossen und mit der Alarmanlage gesichert gewesen. Und dennoch war es dem Mann gelungen, sich Zutritt zu einem der Strandkörbe zu verschaffen. Außer dem rechten Arm und einem dunklen Haarbüschel sah Bente nicht viel von ihm, denn der Korb war mit Blickrichtung auf das Siel ausgerichtet. Der Mann schien zu schlafen. Der Oberkörper hing zur rechten Seite, ein Arm nach unten.
In Bente schrillten sämtliche Alarmglocken, und plötzlich sehnte sie Ubbo herbei. Eine Mischung aus Wut und Ohnmacht übermannte sie, als sie wie in Trance durch den Raum schritt, die Verriegelung der Schiebetür löste und die Glasfront öffnete. Ein scharfer Wind wehte ihr ins erhitzte Gesicht.
Zögernd setzte sie einen Fuß ins Freie.
Ihre Schuhe versanken im Sand. Vorsichtig näherte sie sich dem Strandkorb, in dem der Fremde saß. Wie gebannt starrte sie auf den metallenen Gegenstand, der unter seiner Hand im Sand lag. Plötzlich wusste sie, dass der Mann nicht schlief. Die Hand wirkte wie aus Wachs, die Adern auf dem behaarten Handrücken wie die knorrigen Äste einer alten Eiche. Das alles registrierte sie binnen weniger Sekunden. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie rang nach Luft, spürte den dicken Kloß, der sich in ihrer Kehle bildete. Alles, schrie es tief in ihr, alles, nur das nicht.
Bitte nicht.
Sie wollte zurückweichen, doch ihre Gliedmaßen schienen ihr nicht mehr zu gehören. Sie war wie gelähmt, war
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