Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
Fund der anonymen Warnung hätte etwas eher erfolgen müssen, nicht erst nach zehn Jahren.
Welche Szenarien waren außer einem einsamen Bergunfall vorstellbar? Nun dachte er doch über den Fall nach! Gut, er hatte ja gerade nichts Besseres zu tun. Natürlich könnte es sein, dass Niki damals nicht alleine auf dem Gipfel gewesen war und ein Kamerad den Absturz miterlebt hatte. Aus Angst vor Ermittlungen und möglichen Schuldzuweisungen hatte er sich feige davongemacht. Aber was änderte das?
Nächste Möglichkeit: Niki hatte Selbstmord verübt. Aber in den Unterlagen, die ihm Theresa gegeben hatte, fand sich kein Motiv. Dennoch, die statistische Häufigkeit von Selbsttötungen wurde meist unterschätzt. Er hatte mal gelesen, dass sich in Südtirol deutlich mehr Menschen das Leben nahmen als irgendwo sonst in Italien. Außerdem brachten sich Männer ganz generell sehr viel häufiger um als Frauen. Suizid? Gut möglich!
Das letzte Szenario, dass nämlich Niki Opfer einer Gewalttat geworden war, schien ihm am unwahrscheinlichsten – trotz dieser ominösen Warnung. Nun gut, ausschließen konnte man es nicht. Wer hatte keine Feinde? Aber diese Variante wollte er schon deshalb nicht glauben, weil er sich dann auf die Suche nach einem Täter begeben müsste. Dazu hatte er nun wirklich keine Lust. Lieber saß er auf einer Holzveranda, mit Blick auf Weinlauben, und trank einen Vernatsch, Lagrein, Gewürztraminer, egal.
Mittlerweile kurvte Emilio durch ein ausgesprochen hässliches Industriegebiet am Stadtrand von Bozen – wo waren die verdammten Weinberge? Er hatte kein Navi, aus Prinzip. Emilio war davon überzeugt, dass die Menschen durch Navigationsgeräte jeglichen Orientierungssinn verloren. Die nächste Generation würde ohne Navi nicht mehr auf die Toilette finden. Trotzdem hatte er irgendeine Abzweigung verpasst …
***
Zwanzig Minuten und einen kurzen Regenschauer später entdeckte er ein Schild, das ihn seinem Ziel unaufhaltsam näher brachte. Mit Sorge dachte er an die bevorstehende Unterbringung. Theresa hatte ihn bei einer «alten Freundin» einquartiert. Die Vorstellung konnte einem Angst machen. Er sah schon die Spitzendeckchen vor sich, die geblümten Vorhänge und Filzpantoffeln. Ob sie das gleiche süßliche Parfum wie Theresa verwendete? Wahrscheinlich war sie gehbehindert, und er musste sie im Rollstuhl herumschieben. Emilio hatte Talent darin, sich etwas besonders drastisch auszumalen. Wie war doch gleich ihr Name? Gertrude Josephina! Bei diesen prähistorischen Vornamen musste man mit dem Schlimmsten rechnen!
Emilio fuhr an einer pittoresken Kirche mit Zwiebelturm vorbei. Er hatte die Wegbeschreibung im Kopf. Über eine schmale Holzbrücke, Weinstöcke, ein Marterl, danach scharf rechts abbiegen, nach etwa zweihundert Metern ein kleiner Hof mit grünen Fensterläden. Ziel erreicht! Er drehte den Zündschlüssel ab. Der Landy verstummte mit einer Fehlzündung.
Emilio stieg aus und streckte sich. Schön war es hier, das musste er zugeben. Vor dem Haus plätscherte ein Brunnen. Im ersten Stock ausladende Blumenkästen mit weißen und roten Geranien. Auf der Terrasse neben einer Weinrebe eine schlichte Holzbank mit weißen Kissen. Er war hundemüde. Ob er sich gleich auf die Bank legen sollte? Die Haustür war verschlossen. Sein Läuten und Rufen blieben unbeantwortet. Hoffentlich lag die alte Dame nicht tot vor dem Kamin.
Auf einem Weg aus dem angrenzenden Weinberg näherte sich ein roter Traktor. Hätte sich Emilio mit Traktoren ausgekannt, hätte er einen Lamborghini-Traktor aus dem Jahr 1951 identifiziert, mit 22 Pferdestärken – ein unter Sammlern gesuchter Oldtimer. Aber erstens interessierte sich Emilio nicht für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, und zweitens wurde seine Aufmerksamkeit von der Lenkerin des Traktors in Anspruch genommen. Eine junge Frau, die mit jedem Meter, den sie unter Getöse näher kam, immer besser aussah. Die blonden Haare waren wild zusammengeknotet, die nackten Beine steckten in verdreckten Gummistiefeln, ein rotkariertes Männerhemd war zur Hälfte in eine kurze Lederhose gestopft. Als der Traktor neben ihm zum Stehen kam, merkte Emilio, dass die Frau nicht mehr ganz so jung war, wie er erst gedacht hatte, aber im allerbesten Alter – jedenfalls nach seinem Geschmack.
Sie sah ihn skeptisch an, begrüßte ihn schließlich mit einem zurückhaltenden: «Grüß Gott. Suchen Sie jemanden?»
Er deutete auf das Haus und fragte, ob sie die Besitzerin kenne,
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