Tod sei Dank: Roman (German Edition)
noch etwas im Auge behalten.«
»Aber ich muss hier raus. Es ist sehr wichtig. Ich muss mich mit jemandem treffen.«
Meine Augenbrauen kühlten ein wenig ab. Ich lächelte. Sie wollte uns unbedingt sehen, genau wie ich es mir ausgemalt hatte. Und sogar noch wichtiger war ihr, dass sie uns helfen konnte.
»Sie brauchen ein wenig Erholung. Wenn ich jemanden für Sie anrufen soll, geben Sie Bescheid«, sagte die Krankenschwester.
»Lassen Sie mich einfach in Ruhe«, antwortete sie. Dann hustete und krächzte sie. Danach hustete sie gleich noch einmal.
Als der Arzt und die Schwester das Zimmer verlassen hatten, setzte sich meine Mutter auf und versuchte, das Bett zu verlassen. Ihre Hände und Beine zitterten. Bei jeder Bewegung verzog sie schmerzlich das Gesicht. Ich sah zu, wie sie einen Fuß auf den Boden setzte und den kleinen Schrank neben ihrem Bett öffnete, in dem sich ihre Kleider befanden.
»Gehst du?«, fragte ich sanft. Ob sie meine Stimme erkennen würde?
»Kümmere du dich um deinen eigenen Kram.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich frage mich nur, ob ich vielleicht helfen kann. Du sagtest, du müsstest dich mit jemandem treffen. Ist es ein wichtiger Mensch?«
Sie hatte den Krankenkittel ausgezogen und versuchte jetzt, in ihre Jeans zu steigen. Ihr Hüftknochen drückten sich über der tiefen Taille nach außen. Ich sah ihre Rippen. Sie trug einen gräulichen Büstenhalter, den sie eigentlich nicht brauchte. Sie stand auf, schloss den Reißverschluss der Jeans und zog ein langes, buntes T-Shirt-Kleid an. »Du willst mir wirklich helfen?«, fragte sie.
»Klar.«
»Dann gib mir zwanzig Pfund und halts Maul.«
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Kapitel dreiundzwanzig
Während Georgie ihre Krankheit durch größtmögliche Ignoranz zu bewältigen suchte (unter anderem durch häufigen Einsatz von Alkohol und Sex), war Kay vollkommen unfähig zu jeder Art von Bewältigung. Sie war außerstande, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. In einer Woche sollten ihre Prüfungen beginnen, und sie verstand keine einzige ihrer Notizen aus der Zeit, ehe ihr Körper kollabiert war. Was bedeutet diese rote Linie?, fragte sie sich und starrte das vor ihr liegende Chemiebuch an. Alles ist so verschwommen.
Dass sie ernstlich erkrankt war, hatte sie eher als Georgie gespürt. Ihr war übel gewesen, sie hatte sich müde gefühlt und oft für lange Zeit nicht pinkeln können. Ihr Vater hatte sie immer ein gesundes Kind genannt – in sechs Schuljahren hatte sie nur drei Tage wegen Krankheit gefehlt –, aber das stimmte im Grunde nicht ganz. Kay machte einfach weiter. Sie ging mit rasenden Kopfschmerzen zur Schule. Spielte mit einer Halsentzündung Hockey. Erledigte ihre Einkäufe trotz PMS – Depressionen. Paukte auch als Nierenkranke intensiv weiter.
Als Kay auf der Dialysestation saß, die Bücher ausgebreitet vor sich auf dem Tisch, musste sie sich eingestehen, dass sie ihre Erkrankung nicht länger ignorieren konnte. Diese Krankheit war ein Scheißkerl. Sie hatte vergessen, ihre Medizin zu nehmen, sie hatte nicht richtig gegessen. Wenn sie so weitermachte, würde sie durchfallen. Und wenn sie ehrlich war, dann war es ihr sogar egal. Sie träumte nicht mehr davon, dass ihr Orchesterfreund Graham sie nach all diesen Jahren erotischer Spannung plötzlich küssen und überwältigen würde. Welchen Zweck hatten Hoffnung, Zukunft, Liebe, wenn sie langsam aus dem Leben entschwand?
»Evie?«, sagte sie zu der Frau, die neben ihr am Dialyseapparat hing: »Könnten Sie die Schwester für mich rufen?«
»Bitte, Liebes?« Evie zog die Kopfhörerstöpsel aus den Ohren. Sie hatte sich gerade eine ihrer Catherine-Cookson-Verfilmungen angeschaut. »Was gibt es, Schätzchen?«, fragte sie Kay.
»Könnten Sie die Schwester für mich rufen?«
»Natürlich. SCHWESTER!«, schrie Evie mit überraschender Lautstärke. »Schwester! Der kleinen Kay geht es nicht gut.«
Wo ist Georgie? Sie sollte hier sein, dachte Kay. Was steht in dieser Zeile? Alles verschwimmt. O weh, ich bin wirklich krank, dachte sie. Ich bin wirklich richtig krank. Georgie! Papa!
Und jetzt liege ich auf dem Boden.
Sammy, der ihr mit dem neuesten Stieg-Larsson-Thriller in der Hand gegenübersaß, sah zu, wie Kay zu Boden fiel.
Kleine Schlampe, sagte er sich im Stillen. Jetzt bekommt sie wahrscheinlich als Nächste eine Spenderniere. Dabei bin ich an der Reihe. Wenn sie wirklich eine bekommt, beschwere ich mich bei der Klinikleitung.
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Kapitel vierundzwanzig
»Ich
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