Tod sei Dank: Roman (German Edition)
brauche mehr Geld«, sagte Cynthia in das Münztelefon an der Saunchiehall Street. Sie hatte fast zwei Kilometer durch die Straßen wanken müssen, bis sie endlich eine Telefonzelle gefunden hatte. Waren heutzutage so gut wie verschwunden, die Dinger. Dieses scheußliche Grufti-Mädchen im Krankenhaus hatte sich geweigert, ihr zwanzig Pfund zu geben. Für wen hielt die sich eigentlich? Was hatte sie noch mal gesagt? »Warst du immer schon so eine blöde Kuh? Vielleicht. Vielleicht warst du immer schon eine blöde Kuh.« Bleiche kleine Idiotin.
Ohne die zwanzig Pfund steckte Cynthia in der Patsche. Sie brauchte Stoff, und zwar sofort. Ein wenig für sich selbst, ein wenig für Heath. Also brauchte sie eine Spesenerstattung und eine Sicherheitsrücklage. »Ich werde Will erst treffen, wenn ich mehr Geld bekomme«, sagte sie zu Preston.
Preston saß in seinem Büroschrank (er las, statt Mathe zu lernen, wie seine Mutter glaubte, zum zweiten Mal Krieg und Frieden ) und war froh, von ihr zu hören. Zwei Stunden zuvor hatte er im Krankenhaus Kaffee für sich und Georgie geholt – ah, Georgie –, und bei seiner Rückkehr war Cynthia bereits über alle Berge gewesen.
»Wo ist sie?«, hatte Preston seine neueste Obsession gefragt.
»Ist doch scheißegal«, hatte Georgie gesagt. Sie weinte.
»Hast du deinem Vater gesagt, dass ich sie gefunden habe?«
»Nein«, sagte sie.
»Hör zu, ich werde sie finden. Ich werde die Sache in Ordnung bringen.«
»Ich würde mir an deiner Stelle keine Mühe geben«, sagte Georgie.
Nachdem er heimlich eines von Georgies durchgekauten Nikotinkaugummis aus dem Mülleimer gefischt hatte, ging Preston nach Hause, um über seinen nächsten Schritt nachzudenken. Während er mit Cynthia telefonierte, rollte er den kleinen grauen Kaugummiball zwischen den Fingern hin und her. Er war nicht das ideale Andenken, aber fürs Erste würde er reichen. Ihm gefiel der Gedanke, dass sich Georgies Speichel mit der zähen Masse vermischt hatte.
»Wo bist du?«, fragte er Cynthia. »Wo kann ich dich treffen?« Sie schlug das Glasgow Film Theatre vor, in einer Stunde.
Preston konnte ausgezeichnet mit Stress umgehen. In den letzten zwei Wochen hatte er Drogen gekauft, einen Mann getötet, einer Frau das Leben gerettet und sich verliebt. Doch als er von der Wohnung seiner Mutter im West End in Richtung Stadtzentrum ging, musste er sich eingestehen, dass das letzte dieser Ereignisse ihn am meisten Kraft gekostet hatte. Nachdem Will Marion ihm den Auftrag erteilt hatte, seine Exfrau zu suchen, hatte er sich eine Weile mit der Familie beschäftigt. Gute Vorbereitung war seiner Meinung nach der Schlüssel zum erfolgreichen Abschluss eines Auftrages, und dazu gehörte, dass er seine Klienten näher kennenlernen musste. Also hatte er zunächst einmal die Familie Marion von einem Baum in ihrem Garten aus beobachtet. Das Haus war sehr schön: zwei Stockwerke und ein spitzgiebeliges Dach, das die meisten Nachbarn ausgebaut und in Schlafzimmer umgewandelt hatten. Die Gärten waren gepflegt, und sauber geschnittene Hecken trennten die schmalen Rasenstücke voneinander. Die Mülleimer standen ordentlich aufgereiht in einer Gasse hinter den Garagen. In dieser Mittelstandsgegend hielten die Menschen sich an Regeln und waren auf Ordnung bedacht. Drei Mal hatte er das Haus von dem Baum bei der hinteren Gartenpforte aus beobachtet und sich dabei mit einer braunen Cordhose und einem braunen Pullover getarnt. Er hatte bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet, war auf die Gartenpforte geklettert, hatte sich in den Baum – und damit in den Garten – hochgezogen und sich so fest wie möglich an den Stamm geklammert. Beim ersten Mal waren außer in der Küche alle Jalousien geschlossen gewesen, und so hatte er mehrere Stunden damit verbracht, die Vorkommnisse in diesem Raum zu beobachten. Um zehn Uhr hatte Will drei Tassen heiße Schokolade mit Vollmilch zubereitet und aus dem Raum getragen. Vielleicht ins Wohnzimmer? Oder in die Zimmer der Mädchen? Um 10:30 Uhr hatte Georgie am Küchentisch Cornflakes gegessen. Um 11:30 Uhr hatte Kay sich ein Glas Wasser geholt und das Licht ausgeknipst. Ab 00:30 Uhr hatte Georgie eine halbe Stunde lang im Dunkeln auf der Küchenbank gesessen und zwanzig Minuten lang auf den Kühlschrank gestarrt.
Das zweite Mal war am besten gewesen. Die Jalousie im oberen Schlafzimmer hatte offen gestanden. Um 11:30 Uhr hatte Georgie auf ihrem Bett gelegen und die Decke angestarrt. Um 11:40 Uhr war sie
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