Tod sei Dank: Roman (German Edition)
gewirkt, als Georgie noch deutlich kleiner als er gewesen war. An diesem Abend hatte er eine Rauferei mit einer erwachsenen Frau begonnen – das war schon schlimm genug, aber noch schlimmer, wenn man das ungeschriebene Gesetz bedachte, demzufolge Kinder ihre Eltern niemals zurückschlagen sollten.
Sie hatte ihn wieder einmal zur Weißglut gebracht.
Die alte Ausrede.
Sie hatte ihn einen Versager genannt.
Kein Grund, ihr zu drohen … Noch ein Wort, Fräulein!
Sie hatte gesagt, dass Cynthia ohne ihn vielleicht nie drogenabhängig geworden wäre.
Immer noch kein Grund, sie zu packen und mit dem Arm gegen die Küchenwand zu drücken.
Ohne ihn wäre sie gesund und glücklich und Kay stünde nicht an der Schwelle des Todes.
Das wars. Das reichte. Wie konnte sie nur?
Es war vor mehreren Stunden passiert, aber seine Hand war immer noch rot von der Ohrfeige.
Er begann, einen Reim aus einem Hüpfseilspiel zu singen, das die Mädchen gespielt hatten, als sie kleiner gewesen waren.
Verpasse nie die Schlinge, während ich hier singe. Wenn es aber doch passiert, wird zu Doktor Dreck marschiert.
Er war betrunken, was vermutlich der zweite Grund dafür war, dass er sich auf Seite fünf seiner Kladde Notizen machte.
»Georgie« schrieb er auf die linke Seite.
» Kay« schrieb er auf die rechte Seite.
Mit dem Lineal zog er eine vertikale Linie in der Mitte der Seite.
Er unterstrich die beiden Namen mit dem Lineal.
Dann legte er unter den Namen weitere Spalten an. Die Tabelle sah folgendermaßen aus:
Ehe er weiterschrieb, nahm er noch einen Schluck aus der zweiten Flasche Rotwein, die er an diesem Abend geöffnet hatte. Wo ist sie?, fragte er sich. Nach der Ohrfeige war er an der Küchenwand entlang zu Boden gerutscht und hatte wie ein Baby geheult. Minutenlang hatte er nichts gesehen oder gehört. In dieser Zeit musste sie gegangen sein. Endlich hatte er sich aufgerafft und in allen Zimmer nachgesehen. Sie war nicht mehr im Haus. Die Vordertür hatte sie offen stehen lassen. Wohin war sie gegangen?
Er kehrte zu seinem work in progress zurück … das Pro und Kontra der Georgie Marion, sechzehn Jahre alt.
Das Pro und Kontra der Kay Marion, ebenfalls sechzehn Jahre alt.
Kay war immer noch im Krankenhaus, wo sie sich weisungsgemäß ausruhte und wo Mr Jamieson und die Schwester sich besser um sie kümmerten, als er es getan hatte. Sie sorgten dafür, dass Kay ihre Medikamente nahm, dass sie ausreichend aß und schlief und sich rechtzeitig zu ihren Prüfungen erholte.
Will trank den letzten Schluck aus der Flasche. Der Notizblock rief, aber vorher brauchte er eine neue Flasche und einen Joint. Ohne Dope würde er diese Sache niemals durchstehen.
Wo war das Dope?
Wann hatte er zuletzt welches genommen? Vor Jahren war Linda mit einem kleinen Beutel vorbeigekommen. »Hier, du Guter«, hatte sie gesagt. »Du musst mal chillen.«
Er kramte in dem Aktenschrank herum, der in der Zimmerecke stand. Hatte er das Dope vor einigen Jahren nicht in einen Ordner mit der Aufschrift »D« gelegt? Ganz schön schlau: D wie Dope. Er hätte natürlich auch G wie Gras oder C wie Cannabis wählen können – die Möglichkeiten waren schier unbegrenzt. Aber er hatte sich seinerzeit für D entschieden, weil sonst nichts in seinem Leben mit D anfing. Außer vielleicht Drehzahlmesser. Aber wer würde etwas über Drehzahlmesser ablegen? Er nahm nur selten das Auto, und den Drehzahlmesser beachtete er dabei fast nie. Dafür war in letzter Zeit etwas in sein Leben getreten, das mit T begann. T wie Tod.
Es lag nicht im Ordner D.
Jetzt erinnerte er sich. Er hatte das Versteck geändert, als ihm eingefallen war, dass die Mädchen es vielleicht für ein Schulprojekt über Dänemark benutzen könnten und hatte den Stoff unter »M« deponiert (für Marihuana), wo er neben den Dokumenten für Mietzahlungen lagerte, die für die Mädchen von keinerlei Interesse waren.
Na also! Ein kleiner Plastikbeutel neben seiner letzten Ablage über einen Mieteingang. Am oberen Beutelrand war einer dieser Verschlussstreifen zum Zudrücken. Drinnen befand sich etwas Grünes.
Was machte er hier eigentlich? Was hatte er da gerade aufgeschrieben? Seit der Diagnose schien diese Möglichkeit irgendwo in seinem Kopf existiert zu haben – ähnlich wie ein Lottogewinn oder die Fantasie, Cynthia mit einem großen, metallischen Gegenstand den Schädel einzuschlagen. Aber er hätte niemals gedacht, dass er sie wissentlich aus den hinteren Regionen seines Oberstübchens
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