Tod sei Dank: Roman (German Edition)
hatte eine ganze Flasche Wodka getrunken. Ich war barfuß, und ich wollte einen passenden Ort zum Starren finden. Darauf freute ich mich. Menschen, die keine ausreichenden Starrqualitäten haben, wissen gar nicht, was ihnen entgeht. Wenn ich starre, dann verwandelt sich das, was vor mir liegt, in etwas völlig anderes. Nicht unbedingt in etwas Besseres. Manchmal in etwas viel Schlimmeres. Aber es kann sich sehr gut anfühlen, in die Wirklichkeit zurückzukehren und festzustellen, dass sie gar nicht so schlimm ist wie der Massenmord, den man gerade herbeigestarrt hat. Dass es in der wirklichen Welt im Grunde viel weniger blutrünstig zugeht. In Zeiten wie diesen ist Starren das Beste, was man tun kann.
Hatte es denn jemals Zeiten wie diese gegeben? Hatte schon einmal eine Frau ihre Mutter gefunden, nach der sie sich mehr gesehnt hatte als die Mutter nach Heroin, nur um dann ohne Sinn und Zweck in tausend Stücke zerrissen zu werden? War irgendjemand zweimal von Will Marion geschlagen worden, der verdammt harte Ohrfeigen austeilt und meine Schwester mehr liebt als mich?
Er würde mich aufgeben.
Er würde Kay retten.
Er würde mich aufgeben.
Er hatte niemals eine Entscheidung getroffen, mein Vater, keine einzige, sein ganzes Leben lang. Und das ist sie nun also, seine einzige Entscheidung.
Ich erreichte einen geeigneten Platz oberhalb des Bahnsteigs, hinter einer Brücke: die Skateboard-Anlage im Park. Groß und grün war er, der Park. Unheilvoll vielleicht sogar dann, wenn man nicht wusste, dass hier vor nicht allzu langer Zeit eine Frau umgebracht worden war. Vom Bürgersteig ins Gebüsch gezerrt, vergewaltigt und erdrosselt. In Plakate und gelbe Absperrbänder verwandelt. Ich setzte mich auf eine der Skateboard-Rampen und fragte mich, ob vergewaltigt und erdrosselt zu werden zwangsläufig schlimmer sein musste als meine eigene Situation.
Papa. Ich habe dich geliebt, meistens. Wie einen Schorf, an dem man herumpult, den man vielleicht sogar isst, wenn gerade keiner hinguckt. Schorf ist prima. Es gibt vieles, was ich an ihm mag. Aber ich verachte ihn auch. Kriegsverletzungen. Hier bin ich von der Rutsche gefallen. Da vom Fahrrad.
Ich habe dich aus dem falschen Grund verachtet. Es war nicht deine Schuld, dass sie gegangen ist. Es war nicht deine Schuld, aber ich habe dich deswegen angeklagt. Jetzt wünschte ich, dass es der richtig Grund gewesen wäre. So ein schöner, einfacher Grund – du hast sie vertrieben. Du hast sie nicht aufgehalten. Jetzt sehne ich mich nach dieser Wut. Wo ist die Wut, wenn man sie braucht?
Wo sind die Tränen, wenn man sie braucht?
Was ist aus meiner Starrqualität geworden?
Morgen soll ich wieder zur Dialyse gehen.
Du kannst mich mal, Dad.
Du kannst mich mal, Alfred.
Ich werde nicht hingehen.
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Kapitel neununddreißig
Wenn Kay nicht schlief, zappte sie von einem Nachrichtensender zum nächsten. Afghanistan, zapp. Kokain schnupfender Politiker, zapp. Massenkarambolage auf der M8. HALT. Während sie die Aufnahmen von der M8 anschaute, streichelte sie ihr Telefon und fragte sich, ob dort vielleicht gerade ihre Niere frei werde.
Wie alt ist diese Person?, fragte sie den Fernseher, und wenn der Reporter nicht antwortete, schaltete sie zu einem anderen Sender, um zu sehen, ob es dort mehr Informationen gäbe. Wenn nicht, sagte sie ein kleines Stoßgebet auf, das etwa so lautete:
Bitte, bitte, lieber Gott, lass das meine sein.
Sie kam sich schlecht vor, weil sie nicht »oder Georgies« sagte.
Seit einigen Tagen hatte sie sich immer, wenn sie wach war, durch die Sender gezappt: Nachrichten, Nachrichten, und manchmal ein Werbespot, der sie interessierte:
»Jeden Tag sterben drei Menschen, während sie auf eine Niere warten … Bitte registrieren Sie sich jetzt als Spender.«
Bitte registrieren Sie sich jetzt, sagte sie dann. Ich bin die schwache Person, die in dem Spot auf einem Stuhl sitzt und stirbt. Ich warte auf das Fleisch, das Sie nicht mehr brauchen.
Und wenn es nicht der Werbespot war, dann waren es die Nachrichten.
Jemand war im Clyde ertrunken. Konnte ihre Niere sein.
Ein Mord in Pollok. Käme die infrage?
Ein Feuer in Edinburgh. Zu stark beschädigt?
An dem Morgen, als Georgie weggelaufen war – sie hatte ihre flehentliche Bitte »Bitte geh nicht, ich glaube, ich werde verrückt!« ignoriert (hatte Georgie sie überhaupt gehört? Es war nicht ihre Art, sie verzweifelt zurückzulassen) –, an diesem Morgen also schaltete Kay die Nachrichten ein, stand
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