Tod to go (Crime Shorties)
konnte sich genau daran erinnern, wie sich Lea jeden Abend in ihr Zimmer eingeschlossen hatte. Und er hatte ihr Schluchzen gehört. Manchmal die ganze Nacht lang. Die Wände waren dünn.
Lea hatte das Kind ausgetragen. Ihre Eltern wollten mit dem »Bastard«, wie sie den Enkel nannten, nichts zu tun haben.
Lea hatte alles allein gemacht. Ohne Hebamme. Ohne Arzt. In ihrer Kammer. Nicht einmal sehen wollten ihre Eltern das Kind.
Schon damals wollte er mit Lea und dem kleinen Alexander weg. Sie hatte gesagt, dass es unmöglich sei und ihn zu anderen Frauen geschickt.
»Du musst Erfahrung sammeln«, hatte Lea gesagt. Aber er hatte sich immer nur zu ihr hingezogen gefühlt. Auch wenn er mit ihnen ausgegangen war, er hatte immer nur an Lea, an seine Schwester gedacht.
»Wir dürfen das nicht«, hatte Lea gesagt. »Wir sind ja fast Geschwister.«
Damals hatte sie mit dieser Geschichte angefangen. Und eines Abends, die Eltern waren ein Jahr zuvor kurz hintereinander gestorben, da hatten sie miteinander geschlafen. Einfach so.
Lea hatte ihn angelächelt und gesagt, dass nichts Verbotenes daran sei. Er sei adoptiert. Weil sie keine Kinder mehr bekommen konnten und unbedingt ein Junge den Hof erben sollte.
Er beschmierte sein Brot mit Butter und lächelte zu ihr hinüber. Ja, so war Lea. Versuchte immer aus allem das Beste zu machen. Wen ging das etwas an, dass sie als Paar zusammenlebten? Und jetzt, nach all den Jahren kam jemand und brachte Unfrieden.
Damit es kein Gerede gab, hatten sie damals den elterlichen Hof verkauft und das Gehöft auf Nordstrand erworben. Hier kannte sie niemand. Die Häuser lagen weit auseinander. Man kümmerte sich um die eigenen Angelegenheiten. Bis jetzt.
»Wo bist du mit deinen Gedanken?«
Sie schaufelte ihm die Eier auf den Teller.
Himmel, du musst dich vorsehen. Träum nicht. Wer träumt, macht Fehler. Die Scheibe Brot mit der Butter über dem Rührei zerkrümeln. Ja, so mochte er es am liebsten. Dann Pfeffer darüber und den Schnittlauch. Einen Schluck Kaffee trinken. Sich nichts anmerken lassen.
»Raus damit, was ist?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nichts, gar nichts.«
Ja, vielleicht sollten sie einfach weggehen. Lea, Alexander und er. Einfach den Hof verkaufen und in die Stadt ziehen. Da würde man sie in Ruhe lassen. Wen interessierte da schon, was der Nachbar machte?
Er wollte in Frieden leben. Ging niemanden etwas an, ob sie mit Trauschein zusammenlebten oder nicht. Sie trugen denselben Namen. Das musste reichen.
Aber was sollte er in der Stadt anfangen? Wovon sollten sie leben? Er hatte keinen Beruf gelernt. Jedenfalls nicht richtig. Und was sollte aus den Tieren werden? Aus den Schafen. Gut, das Geld für den Hof würde eine Weile reichen. Aber dann?
Sie hob vorsichtig die Gabel. Ja, dachte er, sie hat die gleichen Finger wie ich, die gleiche etwas spitze Nase, den gleichen Haaransatz. Aber Ehepaare wurden sich mit den Jahren auch immer ähnlicher. Nichts Besonderes. Wem wäre das aufgefallen, wenn nicht ... Aber was war mit Alexander?
»Seht her, der Debile«, würde man sagen, Lea und ihn der Inzucht beschuldigen. Dabei war er ja gar nicht Alexanders Vater. Angeblich.
»Hast du manchmal daran gedacht, deine Eltern kennenzulernen?«, hatte Lea ihn gestern gefragt. Sie war wirklich rührend. Wollte ihm immer noch das Märchen von der Adoption verkaufen. Nach all den Jahren. Sie schien zu spüren, dass ihn etwas bedrückte. Oder hatte ER mit ihr geredet?
Im Nebenzimmer lärmte es.
»Der Junge ist wach.«
»Wenn er ein paar Minuten wartet …«
»Alexander wartet nicht«, sagte sie. »In seiner Welt wartet man nicht.«
Egal wie die Ärzte seine Krankheit nannten, die Leute würden von Inzucht reden. Claasen hatte vor ein paar Tagen schon damit angefangen.
Im Kinderzimmer half Lea Alexander beim Anziehen. Das Telefon klingelte. Claasen.
»Hab gestern geangelt.«
Jan zuckte zusammen. Ja, er hatte sich schon gedacht, dass es Claasen war, der da auf der Mole gesessen hatte.
»Wollt ihr ein paar Aale? Ich meine ...«
Dieses Aas wollte ihn erpressen, wollte ihn fertigmachen. Bis eben hatte er noch gehofft, dass er ihn nicht erkannt hatte.
»Ich frag Lea.«
»Hast wohl selber bisschen geangelt. So ohne Schein.«
Er hörte Claasens gurgelndes Lachen. Der hielt inne und wurde ernst:
»Hör zu, das ist ganz allein deine Sache. Das geht niemanden etwas an. Niemanden, verstehst du?«
*
Er reichte Alexander ein Spielzeugauto. Der Junge streckte den Arm
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