Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
schüttelte über sich selbst den Kopf.
Er hörte das Violinkonzert Nr. 1, noch bevor er die Eingangstür geöffnet hatte.
Hope saß mit einer Kaffeetasse in seinem Sessel, trug ihren Morgenmantel und Pantoffeln, die Couch war als Bett hergerichtet,
das Licht aus der Küche umhüllte sie mit einem weichen Schimmer.
»Hallo«, begrüßte sie ihn. »Sorry, aber ich hab mich schon mal häuslich eingerichtet.«
|387| »Wunderbar. Aber wenn, dann schlafe ich auf der Couch.«
»Sie sind zu groß für die Couch. Und außerdem bin ich der Eindringling.«
»Das sind Sie nicht.«
»Natürlich. Es ist Ihr Haus, Ihre Privatsphäre, Ihr Alltag, der gestört wird …«
Er legte die Heckler & Koch auf die Küchenablage, schaltete den Wasserkocher an, sah die Blumen. Sie hatte einen riesigen
Strauß aus dem Garten seiner Mutter gepflückt und in einer Vase auf die Küchentheke gestellt.
»Kein Problem.«
»Ich denke noch immer, dass es nicht nötig wäre, aber Ihre Mutter …«
»Manchmal ist es einfach zu viel mit ihr.«
Er machte Kaffee, erzählte ihr von dem Foto, von Russell Marshall und dessen Bildbearbeitungskünsten, seiner Auseinandersetzung
in der Redaktion — bei der die Geschichte über das Testament zum ausschlaggebenden Faktor geworden war.
»Irgendjemand wird Schlebusch erkennen. Wir werden ihn finden.«
»Wenn er uns nicht zuerst findet.«
»Wir sind auf ihn vorbereitet.«
Sie tranken den Kaffee.
»Hope«, begann er, »wenn ich sagen würde, Ihr Morgenmantel sei retro, was hat das dann zu bedeuten?«
Sie lag in der Dunkelheit auf der Couch, es war warm unter den Decken, wohlig. Sie lauschte den Geräuschen von van Heerden
im Badezimmer, fragte sich unwillkürlich, wie sein |388| Körper unter der Dusche aussah. Ihr eigener Körper war rastlos, ein Dieb in der Nacht, eine Reaktion, ein Kitzeln, das sie
durchflutete.
Sie lächelte über sich selbst. Alles funktionierte noch.
Sie lauschte, bis das letzte Licht ausging.
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Es ist eine Sache, zwanzig Jahre alte Akten durchzublättern und angewidert die Schwarz-Weiß-Fotos längst vergessener Morde
zu betrachten. Etwas ganz anderes ist es, als Erster am Tatort zu sein und den Tod in seiner ganzen Farbenpracht zu erleben,
ihn mit allen Sinnen aufzunehmen, die Gerüche von Blut, von Körperflüssigkeiten, des Todes selbst — diesen seltsamen, fürchterlichen,
süßlichen Duft menschlichen Fleisches, das zu verwesen beginnt.
Die visuelle Wirkung des Mordes: die klaffende, blutrote Spalte einer aufgeschlitzten Kehle, das mehrfarbige Gewinde der Eingeweide,
in denen eine Patrone gewütet hatte, die riesige Erhebung der Austrittsöffnung eines 7,62mm-AK-Geschosses; die starren, trüben
Augen, die unmöglichen Winkel, in denen sich Gliedmaßen anordnen konnten, die Gewebereste an der Wand, die klebrige, rötlich
braune Lache gerinnenden Blutes, die Blässe eines verwesenden Körpers zwischen Herbstlaub und grünem Gras, als Kontrast dazu
die Speisegäste, die dunklen Insekten, die sich so deutlich von dem blassen Hintergrund abheben.
In den ersten Wochen und Monaten beim Morddezernat dachte ich oft an die psychologischen Auswirkungen meiner Arbeit.
Der Polizeialltag bedrückte mich. Er verursachte Albträume, ließ mich nicht einschlafen oder in den frühen Morgenstunden |390| hochschrecken. Er brachte mich dazu, dass ich trank und fluchte, und ich stumpfte ab, während ich taumelnd nach Möglichkeiten
suchte, mit allem fertig zu werden, mich daran zu gewöhnen.
Ein permanenter Zustand posttraumatischen Stress-Syndroms, ein unausgesetztes Bombardement, die ständige Erinnerung daran,
dass wir Staub waren, unendlich klein, ein Nichts.
Die Tatorte trugen nur einen Teil dazu bei.
Der andere Teil rührte von der Tatsache her, dass wir mit dem Abschaum der Welt zu tun hatten, tagein, tagaus, jeden Tag,
jede Nacht. Dem Abfall, dem Auswurf, den Verrückten und Habgierigen, den Hitzköpfigen und Skrupellosen, den moralisch Verwerflichen:
Wir waren dem Bösen ausgesetzt, ununterbrochen.
Wir arbeiteten viel, hatten unmöglich lange Dienstzeiten, hatten uns der ständigen Kritik der Medien, der Öffentlichkeit und
der Politiker zu erwehren, und das zu einer Zeit großer politischer Veränderungen, in einem Teil der Welt, in dem die Unterschiede
zwischen der weißen Ersten Welt und der benachteiligten schwarzen Dritten Welt unaufhörlich von den Flammen niedriger Instinkte
geschürt wurden. Wir waren unterbesetzt,
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