Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
Hilfe.«
Sie lachte auf, ein einzelner, bellender Laut, der die Eingangshalle erfüllte. »Und Sie werden mir helfen, Zatopek van Heerden?«
»Akzeptieren Sie mein Gegenangebot?«
»Unter einer Bedingung.«
»Welcher?«
»Wenn Sie mich wieder wegschieben …«
»Ja?«
»Dann halten Sie sich nicht zurück, van Heerden. Lassen Sie Ihre ganze Wut raus.«
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Irgendwann während der in Routine erstarrten akademischen Jahre nahm ich, spätabends, an einer dieser sinnlosen Diskussionen
teil, die geführt werden, wenn die Leute gerade so viel getrunken haben, dass es ihnen nicht mehr peinlich ist, wenn sie blanken
Unsinn erzählen. Die anderen Gesprächsteilnehmer habe ich lange schon vergessen, derjenige, der die Theorie aufgeworfen hatte,
ist mir nur noch schemenhaft in Erinnerung. Doch es drehte sich um das Schicksal — und ob es möglich wäre, dass es Parallelwelten
gab.
Angenommen, so der Ausgangspunkt der Diskussion, die Wirklichkeit teile sich wie eine Straße, und das jedes Mal, wenn eine
wichtige Entscheidung zu treffen ist. Da einem im Allgemeinen zwei Möglichkeiten offen stehen, würde dies in einer Aufspaltung
der Welt resultieren — man hat jeweils die Wahl zwischen einer breiten und einer schmalen Straße.
Und da schwierige Entscheidungen häufig in einem fragilen Gleichgewicht verschiedener Möglichkeiten getroffen werden, kann
bereits der unbedeutendste, winzigste Grund die gefährdete Balance zerstören.
Und weiter angenommen, du und deine Welt existieren in beiden Wirklichkeiten fort und mit ihnen all die anderen Welten, die
man mit seinen Entscheidungen früher bereits |256| geschaffen hat. So lebt man dann in jeder Parallelexistenz mit den Ergebnissen seiner Entscheidungen.
Es war ein amüsantes Spiel, eine quasi-intellektuelle Übung, die Science-Fiction-Autoren reichlich Stoff lieferte und mich
jahrelang verfolgte.
Vor allem, nachdem Baby Marnewick so plötzlich wieder in mein Bewusstsein gedrungen war.
Es begann mit zwei Artikeln in derselben Ausgabe der
Law Enforcement
über die miteinander verwandten Disziplinen des Profiling und der »Signatur«-Erkennung von Serienmördern in den USA. Einer
stammte vom Leiter der FBI-Abteilung für Verhaltensforschung, der andere von einem leitenden Detective, der für den Staatsanwalt
in Seattle, Washington, arbeitete. (Beide Verfasser wurden später zu legendären Vertretern ihres Fachs.)
Unter beruflichen Gesichtspunkten stellten die beiden Artikel inhaltlich eine Revolution dar: einen großen kriminologischen
Wurf, der die Lücke zwischen angewandter Psychologie und praktischer Polizeiarbeit beträchtlich verringerte. Für mich allerdings
war die Lektüre weniger eine akademische als vielmehr eine persönliche Erfahrung, denn die präsentierten Tatsachen, der
modus operandi,
die Beispiele, auf denen beide Artikel ihre Argumente aufbauten, waren eine Blaupause des Mordes an Baby Marnewick. Sie ließen
unsere tote Nachbarin wieder aus ihrem Grab auferstehen, weckten erneut die Erinnerungen an sie und ließen diese mit großem
Pomp und Getöse in meinem Bewusstsein vorüberziehen.
Und lenkten den vorhersehbaren Pfad meines Lebens in eine überraschende, neue Richtung.
|257| Und nun bedarf es einiger Erläuterungen, denn in den nachfolgenden Jahren lernte ich, dass die Gefühle, die Serienmörder wecken,
unter der Bevölkerung zu einer falschen Wahrnehmung und zu Ansichten führen, die mit der Wirklichkeit nur wenig gemein haben.
Als Erstes ist zwischen Serienmördern und Massenmördern zu unterscheiden. Erstere sind die Ted Bundys dieser Welt, auf tragische
Weise beschädigte Menschen, die auf mehr oder minder die gleiche Art ein Opfer nach dem anderen töten. Es sind ausnahmslos
Männer, ihre Opfer gewöhnlich Frauen (es sei denn, es handelt sich bei ihnen um Homosexuelle wie etwa Jeffrey Dahmer). Der
wichtigste psychologische Motivationsfaktor beruht auf ihrer völligen Unfähigkeit, gesellschaftlich in irgendeiner Weise wahrgenommen
zu werden — obwohl ich das nur äußerst zögerlich sage, denn durch Verallgemeinerungen wie diese mache ich mich, ähnlich wie
die Massenmedien, schuldig, für ein sehr komplexes Thema eine doch recht eindimensionale Erklärung zu liefern.
Massenmörder dagegen sind jene, die in den Glockenturm der Universität hinaufsteigen und wild um sich knallen. Oder das Gleiche
an einer Straßenecke tun — im Gegensatz zum mehrfachen, geplanten Aufspüren eines
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