Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
schnappen, den Täter dieser abscheulichen Verbrechen dingfest
zu machen. Und alle ermächtigten mich und boten mir dazu ihre uneingeschränkte Hilfe an, den Fall zu lösen, damit die schlafenden
und angestaubten Akten endlich geschlossen werden konnten.
In jenen Wochen entdeckte ich die Seele des Polizisten, den Jagdinstinkt, die enge Verbindung, die der Jäger mit seiner Beute
eingeht. Denn aus jeder Akte sprach Leidenschaft und Hingabe, jedem Paket lag ein Brief bei, in dem man mich bat, das neue
kriminologische Wissen anzuwenden, damit der Kummer, den der ungelöste Mordfall auslöste, die nagende Gewissheit, dass
er
noch immer dort draußen herumlief und seiner tödlichen Berufung nachging, endlich ad acta gelegt werden konnte.
|302| Es war in jenen Wochen, dass ich, allein in einem Büro inmitten des Ganglabyrinths an der Universität, meine wahre Bestimmung
entdeckte und meine Initiation in die Bruderschaft erfuhr. In jenen Wochen verlor ich Wendy und fand mich selbst, leckte zum
ersten Mal wirklich Blut und konnte dem Geruch nicht mehr widerstehen.
Von den sage und schreibe siebenundachtzig Antworten, die ich aus dem ganzen Land erhielt, ließen sich nur neun ohne den geringsten
Zweifel auf meinen Fall anwenden, bei weiteren vier oder fünf bestand lediglich die Möglichkeit, dass sie auf den von mir
gesuchten Mörder zutrafen. Alle anderen beschrieben Taten anderer Serienmörder, die in den vergangenen zwanzig Jahren unser
Land heimgesucht hatten.
Natürlich bestand die Versuchung, eine Art nationales Register von Massenmördern aufzubauen (wie weit wäre ich meiner Zeit
voraus gewesen!), doch meine Besessenheit obsiegte, meine Ehrenschuld gegenüber Baby Marnewick war eine zu große Bürde.
Und als ich alle Informationen ausgewertet und auf eine riesige Karte übertragen hatte, die eine ganze Wand meines Büros einnahm,
stand die Mordroute des Kreppbandmörders fest. Es handelte sich um die Chronik, die vorbildliche Fallstudie über Aufstieg,
Lehrjahre und die anschließende Zeit der Reife eines Serienmörders, der seine blutige Spur der Zerstörung in die Landschaft
Südafrikas geschrieben hatte.
Und er war ein Bergmann.
Seine Reise begann 1974 in der im Freistaat gelegenen Goldminenstadt Virginia mit dem Überfall und der Vergewaltigung |303| eines vierzehnjährigen schwarzen Schulmädchens, das die Messerstiche in der Brust nur durch schiere Willenskraft überlebt
hatte, nachdem man sie im Veld gefunden hatte; ihre Hände waren mit Kreppband auf den Rücken gefesselt. Seine erste Initiationshandlung?
Oder gab es bereits vorher Delikte, unbeholfene, ungemeldete Versuche? Oder war es nur das erste Mal, dass er sich des Kreppbands
bediente? Die Akte erwähnte, dass das Opfer keine Beschreibung des Vergewaltigers abgeben konnte. Oder nicht wollte?
Noch im gleichen Jahr wurde ein fünfzehnjähriges weißes Schulmädchen, ebenfalls aus Virginia, am Straßenrand gefunden; seine
Hände waren mit Kreppband verschnürt, siebzehn Messerstiche im Brustbereich, eine Brustwarze war abgeschnitten. Die Polizei,
der klar war, dass zwischen beiden Taten ein Zusammenhang bestand, durchsuchte die schwarze Township und die Unterkünfte der
schwarzen Bergmänner, befragte eine Reihe schwarzer Verdächtiger; es wurde niemand verhaftet.
Blyvooruitzicht am West Rand, 1975: Eine zweiundzwanzigjährige Sekretärin einer Anwaltskanzlei, klein und hübsch, beendete
ihre Arbeit und ging nach Hause. Ab diesem Zeitpunkt wurde sie nicht mehr lebend gesehen. Am darauffolgenden Tag, um 12.22
Uhr, trat man die Tür zu ihrem kleinen Apartment ein, weil man misstrauisch wurde. Man fand sie in dem einzigen Zimmer, Hände
und Füße mit Kreppband gefesselt, mehrere Messerstiche in den Brüsten, beide Brustwarzen unbeholfen abgeschnitten, ein Teddybär
auf ihrem Gesicht. (Das, so das Quantico-Modell, deutete an, dass der Mörder sich seiner Tat schämte, dass er ihre Augen nicht
sehen wollte.)
|304| 16. Dezember 1975: Carletonville. Ein schwarzer Farmarbeiter fand um 6.30 Uhr am Rand der Teerstraße nach Rysmierbult die
nackte Leiche einer einundzwanzigjährigen Bedienung. Kreppband, Stichwunden im Brustkorb, Brustwarzen abgeschnitten. Wann
war sie ermordet worden? Nichts deutete darauf hin, dass sie sich gewehrt hatte, keine Blutspuren waren zu sehen. Niemand
wurde verhaftet.
9. März 1976: Man fand die Leiche einer vierunddreißigjährigen Prostituierten in ihrer Wohnung in
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