Todes Kuss
tranken wir unseren Port. Der Butler hatte auch Zigarren angeboten, doch nur Margaret bediente sich. Keiner der Gentlemen konnte sich dazu überwinden, in Anwesenheit von Damen zu rauchen. Und plötzlich kam ich mir sehr dumm vor. Warum hatte ich gerade diesen Abend gewählt, um gegen die gesellschaftlichen Regeln zu rebellieren?
Lächelnd meinte Margaret: „Ich verstehe nicht, warum die anderen Damen lieber ohne männliche Gesellschaft Tee trinken wollen.“
„Ich bin mir nicht sicher, dass es ihnen lieber ist“, bemerkte ich.
„Wir wollen doch hoffentlich jetzt keine dieser langweiligen Diskussionen über die angebliche Benachteiligung von Frauen führen, oder?“, sagte Arthur Palmer.
„Mich langweilt dieses Thema ganz und gar nicht“, konterte ich. „Aber wir können gern über anderes reden. Margaret und ich haben gestern eine Vorlesung am University College besucht, die Sie gewiss auch interessiert hätte, Lord Palmer.“
„Sie haben Pratts Vortrag über Homer gehört? Ich selbst bedauere sehr, dass ich verhindert war.“
„Teilen Sie Pratts Meinung, dass Chapmans Übersetzung der Ilias so ungenau ist, dass man sie besser gar nicht liest?“, fragte Margaret mich. „Ich weiß, dass Sie das griechische Original nicht kennen. Aber Sie haben sich mit verschiedenen Übersetzungen beschäftigt, nicht wahr?“
„Natürlich kann ich nichts dazu sagen, wie treffend Chapman die Verse des großen Griechen wiedergibt. Allerdings bin ich der Meinung, dass er den Inhalt des Werks gut verständlich erzählt, und zwar in einer bewegenden Sprache. Wenn es sein Ziel war, den Leser zu fesseln, dann hat er es zweifellos erreicht. Der Rhythmus seiner Zeilen trägt ebenso dazu bei wie die Wortwahl.“
Lord Palmer füllte sein Glas noch einmal, ehe er erklärte: „Vermutlich hat Pratt eifrig nach Ungenauigkeiten in der Übersetzung gesucht. Ich jedenfalls könnte nicht behaupten, dass Chapman irgendetwas auffällig falsch dargestellt hat.“
„Ich fand es interessant, wie Pratt sich über den Charakter des Achill geäußert hat.“ Das war wieder Margaret.
„Wahrhaftig“, rief ich aus, „ich konnte kaum glauben, dass Pratt die Meinung vertrat, für Chapman sei Achill der größte und edelste aller Helden. Ich habe beim Lesen eher den Eindruck gewonnen, dass Achill alles typisch Menschliche fehlt.“
„Dann halten Sie ihn nicht für einen Helden?“
„O doch! Er benimmt sich heldenhaft, das kann niemand bestreiten. Aber seine Einstellung zur Moral gefällt mir nicht. Für ihn gibt es nur Schwarz oder Weiß und nichts dazwischen. Wenn man ihn mit Hektor vergleicht, sieht man sofort, dass ihm etwas fehlt.“
„Aber nicht auf dem Schlachtfeld!“
„Das stimmt.“ Ich seufzte. „Ich würde seine Siege jedoch aufrichtiger bewundern, wenn er sich nicht so … Wie soll ich sagen? … Nicht so unnatürlich verhalten würde.“
„Für einen Krieger ist sein Vorgehen auf dem Schlachtfeld völlig normal“, behauptete Lord Palmer. „Ach, ich wünschte, Philip könnte an diesem Gespräch teilnehmen. Er hat seine Ansichten über Achill und Hektor stets sehr überzeugend vorgebracht.“
Ich wollte nach diesen Ansichten fragen, doch Arthur schlug vor, wie sollten uns zu den Damen in den Salon begeben.
Robert, der die ganze Zeit in sein Glas gestarrt hatte, wirkte erleichtert. Mein Vater wiederum war so begeistert von Philips Portwein, dass ihm alles andere unwichtig erschien. Colin sah noch immer so aus, als amüsiere er sich.
Ich warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass Arthur recht hatte. Eine Viertelstunde war vergangen. Es hätte unhöflich gewirkt, die Damen länger warten zu lassen. Wohl fühlte ich mich allerdings nicht, als ich mich erhob. Bestimmt würde meine Mutter mir noch heftige Vorwürfe machen.
Zu meiner Überraschung drückte Colin mir unauffällig die Hand, als ich an ihm vorbeiging.
Mama zeigte sich mir gegenüber noch kälter und abweisender, als ich erwartet hatte. Mrs Dunleigh hingegen freute sich darüber, dass ich gegen die ungeschriebenen Gesetze der guten Gesellschaft verstoßen hatte. Wahrscheinlich glaubte sie, ihre eigene Tochter würde dadurch in einem besseren Licht erscheinen. Ivy schaute mich besorgt an und wollte schon etwas sagen, als Robert auf sie zueilte und sie mit einem strengen Blick zum Schweigen brachte.
„Emily“, rief in diesem Moment Lord Palmer aus, „Sie sollten diese Apollo-Büste auf einen stabileren Sockel stellen. Welch ein Jammer, wenn sie
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