Todes Kuss
bereits dunkel. Und Paris kann gefährlich sein. Ist Ihnen Ihre Sicherheit denn vollkommen gleichgültig?“
Ich zuckte mit den Schultern und wollte mich wieder dem Fluss zuwenden. Doch Colin hielt mich noch immer fest.
„Sie haben geweint“, stellte er fest. „Emily, bitte, erzählen Sie mir, was geschehen ist.“ Sanft legte er mir die Hand auf die Wange. „Haben Ihre Freunde Sie allein gelassen?“
„Nein“, gestand ich, „sie sind inzwischen wahrscheinlich außer sich vor Sorge um mich. Ich bin … Ich bin fortgelaufen. Es ist so viel passiert …“
Er zog mich an sich. Aufseufzend legte ich meinen Kopf an seine Schulter, obwohl ich sehr gut wusste, wie ungehörig das war.
„Mein armes Mädchen“, flüsterte er mir ins Ohr. „Sie müssen nicht darüber sprechen, wenn es Sie zu sehr aufregt.“
Eine Zeit lang standen wir schweigend da. Schließlich versuchte ich, mich aus seiner Umarmung zu befreien. „Vielen Dank für Ihr Verständnis und Ihr Mitgefühl. Dieser Tag war wirklich schlimm.“
„Wollen Sie mir nicht berichten, was Sie so aus dem Gleichgewicht gebracht hat? Können Sie nicht ein wenig Vertrauen zu mir aufbringen?“
Ich empfand es seltsam, wie er sich ausdrückte. Konnte ich Vertrauen zu ihm haben? Ich war mir dessen keineswegs sicher. Also schwieg ich.
„Ich ertrage es nicht, dass Sie unglücklich sind. Sie bedeuten mir zu viel, Emily.“
Dieses Geständnis hätte mich erstaunen müssen. Doch tatsächlich kam es mir ganz natürlich vor, dass Colin mir seine Zuneigung gestand. Ich hob den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. Wir schauten einander an. Ich öffnete die Lippen, um etwas zu sagen. Doch da hatte er schon seinen Mund auf den meinen gepresst. Er küsste mich mit einer Leidenschaft, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte.
Ein heftiges Verlangen erfüllte mich. Ich fuhr Colin mit den Händen durchs Haar, versuchte, ihn noch fester an mich zu ziehen, genoss seine Nähe mit einer Intensität, die mich alles andere vergessen ließ. Hemmungslos erwiderte ich seinen Kuss. Bis mir plötzlich Philip einfiel. Da stieß ich Colin von mir und gab ihm eine heftige Ohrfeige.
Er zuckte zusammen. „Das habe ich wohl verdient“, murmelte er. „Trotzdem vermag ich nicht um Entschuldigung zu bitten. Als Gentleman hätte ich Sie nicht küssen dürfen. Dennoch bedaure ich es nicht im Geringsten. Ich würde es, wenn sich die Möglichkeit böte, jederzeit wieder tun.“
„Wie können Sie nur so rücksichtslos sein? Sie wissen doch, dass Philip vielleicht noch lebt.“ Ich presste eine Hand auf mein viel zu schnell schlagendes Herz und bemühte mich, gleichmäßig zu atmen.
„Philip ist tot. Dessen bin ich mir ganz sicher. Sonst hätte ich Sie gewiss nicht geküsst. Das muss Ihnen doch klar sein, Emily. Philip war mein bester Freund.“
In meinem Kopf schien sich alles zu drehen. „Im Moment weiß ich wirklich nicht, was ich denken soll“, gab ich zu.
„Liebste Emily, Sie tragen eine schwere Last. Ach, wie sehr wünschte ich, ich könnte Ihnen helfen! Doch im Moment kann ich kaum mehr tun, als Ihnen eine Erklärung für meine Handlungsweise zu geben.“ Seine Stimme klang heiser. „Ich liebe Sie, Emily. Ich liebe Sie, seit ich Sie damals vom Café Anglais zum Hotel zurückbegleitet habe.“ Er legte mir einen Finger unters Kinn und hob sanft meinen Kopf. „Ich bewundere Sie für den Mut, mit dem Sie sich gegen die Fesseln Ihrer Erziehung auflehnen. Ich bin beeindruckt von Ihrer Intelligenz und Ihrem Wissensdurst. Ich möchte mit Ihnen über Homer diskutieren, Ihnen beim Erlernen der griechischen Sprache helfen und mit Ihnen nach Ephesos reisen. Sie sind eine wundervolle Frau!“
„Was soll ich darauf erwidern?“, fragte ich schwach.
„Am besten nichts. Ich hoffe nur, dass ich Sie nicht gekränkt habe. Um nichts in der Welt möchte ich Ihnen Kummer bereiten.“
„Mit Ihrem Verhalten haben Sie mich in eine sehr unangenehme Situation gebracht“, stellte ich fest, während ich versuchte, mein noch immer heftig klopfendes Herz nicht zu beachten. „Ich habe nichts getan, um Sie zu ermutigen. Ich hege keine zärtlichen Gefühle für Sie. Ich … Wenn Sie so freundlich wären, mir eine Droschke anzuhalten? Ich möchte ins Hotel zurückkehren.“
Er erfüllte meinen Wunsch sofort und sagte zum Abschied: „Wenn Sie Hilfe brauchen, lassen Sie es mich wissen. Ich werde zur Stelle sein. Denn ich könnte nicht weiterleben, wenn ich befürchten müsste, dass Ihnen irgendetwas
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