Todes Kuss
Haustür und auf die Straße hinaus. Mit gerafften Röcken lief ich die Rue Saint-Georges hinunter. Ich hörte, wie Cécile nach mir rief. Bestimmt machten sich jetzt alle Sorgen um mich. Doch ich musste allein sein!
Mir wurde klar, dass ich nicht einmal genau wusste, wo ich mich befand. Schließlich erinnerte ich mich, dass Renoir erwähnt hatte, es sei nicht weit bis zur Oper. An einer Straßenkreuzung blieb ich stehen und fragte einen jungen Mann, ob er mir den Weg zur Opéra Garnier beschreiben könne. Er gab mir bereitwillig Auskunft. Wenig später hatte ich das große Gebäude erreicht. Schwer atmend lehnte ich mich an eine Wand. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Vermutlich war ich nie zuvor einer Ohnmacht so nahe gewesen.
Nach einer Weile war ich in der Lage, mein Retikül zu öffnen. Ich holte zwei Fotografien heraus, eine von Philip und eine weitere von mir. Es war das, nach dem Renoir gesucht hatte.
Damit stand eines fest: Philip konnte die Aufnahme nicht in Afrika an Mr Prescott übergeben haben, denn er hatte sie bei Renoir in Paris gelassen.
Daran, dass der Maler die Wahrheit gesagt hatte, zweifelte ich nicht. Er hätte keinen Grund gehabt, mich zu belügen. Zudem war es einleuchtend, dass er eine Vorlage benötigte, um das „Porträt von Kallista“ zu malen. Schließlich ließ ein solches Kunstwerk sich nicht in wenigen Tagen vollenden. Und Philip war ja in Eile gewesen, da er sich auf dem Weg nach Ägypten befand.
Inzwischen hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich wieder klar denken konnte. Andrew hatte mir von seiner Parisreise vor drei Wochen nichts erzählt. Er musste sie unternommen haben, kurz nachdem ich seinen Antrag abgelehnt hatte. Vielleicht hatte er sich so von seinem Kummer über die Zurückweisung ablenken wollen. Doch das konnte ihn kaum veranlasst haben, Renoir heimlich die Fotografie zu entwenden. Aber wer sonst hätte ein Interesse daran gehabt, das Bild an sich zu bringen?
Andrews Verhalten verwirrte mich zutiefst. Doch etwas anderes bereitete mir noch weitaus größeren Kummer. Mr Prescott hatte mich belogen – was sehr wahrscheinlich bedeutete, dass Philip gar nicht mehr am Leben war. Meine Hoffnung, meine Träume, meine Vorfreude, meine Begeisterung für die Reise … Alles löste sich plötzlich in Nichts auf. Philip war tot. Konnte daran überhaupt noch ein Zweifel bestehen?
Plötzlich strömten mir die Tränen über die Wangen.
Um nicht allzu sehr aufzufallen, ging ich mit gesenktem Kopf langsam weiter. Ich wollte niemanden sehen, nicht mit Cécile sprechen und auf gar keinen Fall zum Hotel zurückkehren, wo ich wahrscheinlich die Palmers treffen würde.
Unwillkürlich hatte ich den Weg zum Palais de la Cité eingeschlagen, der ehemaligen Residenz der französischen Könige. Als ich die zum Palast gehörende Sainte-Chapelle vor mir sah, wusste ich, dass ich dort Ruhe finden würde. Ich schlüpfte in die Kapelle, nahm auf einer der hinteren Bänke Platz und weinte still vor mich hin.
Es dämmerte bereits, als ein älterer Mann zu mir trat und mich freundlich darauf hinwies, dass er nun die Tür schließen müsse. Als er meine roten und geschwollenen Augen bemerkte, schlug er mir vor, mich noch ein wenig in die Kathedrale Notre-Dame zu setzen, die um diese Zeit noch für Besucher geöffnet sei. Ich dankte ihm und legte den kurzen Weg rasch zurück. Dann verbrachte ich einige Zeit im Kirchenschiff von Notre-Dame. Die von Andacht und Stille geprägte Atmosphäre empfand ich als unsagbar tröstlich. Schließlich fühlte ich mich stark genug, wieder aufzubrechen.
Ich beschloss, zur Pont Neuf zu gehen, die ich sehr liebte. Ich erreichte die Brücke rasch und blieb mitten auf ihr stehen. Statt zu der beeindruckenden Silhouette des Louvre hinzusehen, starrte ich ins Wasser. Auf einmal kam der Mond hinter den Wolken hervor. Er war so hell, dass ich kurz die Augen schloss. Sollte ich in das angenehme Dämmerlicht der nur von Kerzen erleuchteten Kathedrale zurückkehren?
„Emily!“, rief in diesem Moment eine männliche Stimme.
Ich zuckte zusammen, wandte mich um und erkannte zu meinem Erstaunen Colin Hargreaves, der auf mich zueilte.
„Emily, was, um Himmels willen, tun Sie mitten in der Nacht allein auf der Brücke?“ Mit beiden Händen umfasste er meine Arme.
„Guten Abend, Mr Hargreaves“, sagte ich spitz. „Ich bin geradezu erfreut, Sie zu sehen – obwohl ich nicht glaube, dass es mitten in der Nacht ist.“
„Es ist
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