Todes Kuss
noch einen Absinth, wobei ich mir sehr wagemutig vorkam. Er schmeckte abscheulich, aber ich fand, dass ich ihn nicht stehen lassen sollte. Also zwang ich mich, ihn in kleinen Schlucken zu trinken, während ich Zukunftspläne schmiedete.
Was sollte ich tun, wenn ich mit Céciles Hilfe Caravaggios Identität geklärt und die gestohlenen griechischen Kunstwerke zurückgegeben hatte? Erst einmal würde ich natürlich auf Nachrichten aus Afrika warten müssen, und zwar am liebsten in Paris. Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, wollte ich für längere Zeit nicht nach London zurückkehren. Denn dort würde ich mich meinen gesellschaftlichen Pflichten ebenso wenig entziehen können wie der Aufmerksamkeit meiner Mutter.
Ich mochte Paris, auch wenn Ivy mir – ebenso wie Margaret – fehlte. Letztere befand sich unterdessen wahrscheinlich auf dem Rückweg nach New York. Meine anderen Londoner Bekannten wollte ich jedoch nicht sehen, solange ich nicht wusste, ob Philip tatsächlich noch lebte. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, wie mein Leben sich gestalten würde, wenn er aus Afrika zurückkehrte. Als gehorsame Ehefrau würde ich mich dann natürlich in allem seinen Wünschen beugen müssen.
Was aber würde ich tun, wenn sich herausstellte, dass Philip wirklich tot war? Als Witwe konnte ich ein recht unabhängiges Dasein führen. Die Trauerzeit war fast vorbei. Bald würde ich mich also noch freier bewegen können. Trotzdem reizte mich das Leben in London nicht. Zum Glück war da noch die Villa auf Santorin. Ja, ich würde nach Griechenland reisen und mir dort, unbeschwert von gut gemeinten Ratschlägen, überlegen, wie ich meine Zukunft gestalten wollte. Ich würde Griechisch lernen und die Insel erforschen, während ich noch eine Weile den Verlust meines Gemahls betrauerte.
Aline Renoir und ihre Beziehung zu dem Maler fielen mir ein. Die beiden führten eine, wie mir schien, recht ungewöhnliche Ehe. Eines jedoch hatten sie zweifellos richtig gemacht: Sie hatten geheiratet, um miteinander glücklich zu sein. Daran wollte ich denken, wann immer mich jemand drängte, mich ein zweites Mal zu verehelichen. Ich bestellte noch einen Absinth und schwor mir, nie wieder einen Mann zu erhören, solange ich mir nicht darüber im Klaren war, was genau ich vom Leben erwartete und ob er mich darin unterstützen würde.
Ich unterdrückte einen Seufzer. Sollte Philip zu mir zurückkehren, würde ich versuchen, ihm eine gute Frau zu sein. Ich würde mich bemühen, die leidenschaftlichen Gefühle, von denen sein Tagebuch Zeugnis ablegte, zu erwidern und ihn glücklich zu machen. Ich würde aber auch versuchen, meinem Dasein einen darüber hinausgehenden Sinn zu geben – wobei Philip sich mir hoffentlich nicht in den Weg stellen würde.
8. Juni 1888, Berkeley Square, London
Meinen Junggesellenabschied haben Hargreaves und ich mit einer Flasche 47er-Port gefeiert. Hervorragend!
Kallistas Kleider und andere Dinge sind vom Grosvenor Square herübergeschickt worden. Meine Liebste wird alles wohlgeordnet vorfinden. Davis selbst hat sich darum gekümmert, statt die Aufgabe einem der Hausmädchen zu übertragen. Hoffe, Kallista wird glücklich mit mir.
Fühle mich erschöpft und muss unbedingt schlafen. Sonst bin ich womöglich in der Hochzeitsnacht müde. Das wäre unverzeihlich.
30. KAPITEL
Am nächsten Morgen schlief ich viel länger als beabsichtigt. Daher musste ich mich beeilen, um noch rechtzeitig zu dem kleinen Mittagsmahl bei Cécile zu kommen, das sie als Dejeuner bezeichnet hatte.
Ich wählte eines meiner neuen Kleider, eine elegante und dabei doch recht bequeme tiefblaue Kreation aus Worths Atelier. Mr Worth hatte mir versichert, es sei, obwohl weder schwarz noch grau noch lila, durchaus geeignet für die letzten Wochen der Halbtrauer. Meine Mutter wäre sicher anderer Ansicht gewesen, doch glücklicherweise hielt sie sich ja viele Meilen von mir entfernt in London auf. Mir selbst gefiel das Kleid ausgezeichnet, das sich in weichen Falten an meine Hüften schmiegte. Zudem konnte ich darin problemlos atmen und mich sogar bücken, denn auf Céciles Rat hin hatte ich bei der Anprobe mein Korsett nur sehr lose geschnürt.
So war ich sehr zufrieden mit meiner Erscheinung, als ich die Treppe hinunterlief und in großer Eile die Hotelhalle betrat – wo ich mit einem Gentleman zusammenstieß.
Es war Colin.
„Guten Morgen, Mr Hargreaves“, grüßte ich ihn und versuchte, nicht darauf zu achten, wie rasch mein Herz
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