Todesahnung: Thriller (German Edition)
habe noch nie vorher von ihm gehört und ihn vor dem Falcon zum ersten Mal gesehen. Was bedeutet es, dass er nicht da war, als vier Leichen herausgeschoben wurden, er aber hinterher wie aus dem Nichts auftauchte, um mich zu verhören? Es hat etwas zu bedeuten, aber was?
In dem Moment spüre ich den Blick zweier Augenpaare auf mir, der mich beinahe zu Tode erschreckt.
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Ich drehe mich um - durch seine Brille blickt mein Vater abweisend vom Foto auf mich herab.
Neben seinem Bild hängt das von Dr. Magnumsen. Sie stehen mit Sicherheit in einer Verbindung zu Delmonico. Sie sind tot. Zumindest sollten sie das sein.
Ich betrachte das Bild meines Vaters auf den Straßen von New York. Die Teile seines Körpers wirken, als gehörten sie nicht zusammen: seine kantigen Kiefer und die gebeugten Schultern - ein starker Mann, den die ungerechte Welt zerstört hat. Mein Vater war ein begnadeter Schreiner und bei der freiwilligen Feuerwehr. Einmal rettete er einen kleinen Jungen aus einer überfluteten Schlucht, indem er ein Seil an seinem Gürtel befestigte und sich kopfüber von einer Brücke herunterhängen ließ.
Doch den Stadthelden zu spielen machte sich nicht bezahlt, und als seine Schreineraufträge während der Rezession der Achzigerjahre nachließen, wurde das Geld bei uns zu Hause knapp. Welche Ironie: Er hatte beim Bau so vieler Häuser geholfen, doch am Schluss konnte er sein eigenes nicht mehr unterhalten.
Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, hätte meine Mutter etwas mehr Verständnis aufgebracht. Ich erinnere mich an den Abend beim Essen, als sie ihn eine Niete nannte.
Es war ungefähr zu dem Zeitpunkt, als er unkontrolliert zu trinken begann. Jedoch nie in meiner Gegenwart. Nie. Ich war sein Mädchen, seine Prinzessin. Egal, wie schlimm die Lage war, immer schenkte er mir eine Umarmung und ein Lächeln.
Bis zum Ende. Weniger als eine Stunde bevor er sich in unserem verfallenen Schuppen hinterm Haus erschoss, nahm er mich fest in seine Arme und flüsterte mir ins Ohr: »Es wird alles gut.«
Diese Lüge habe ich ihm nie verziehen. Ich weiß, er hätte mir leid tun müssen, aber ich war viel zu sehr mit meinem eigenen Leid beschäftigt.
Jetzt, nach all den Jahren, taucht er plötzlich an einer Straßenecke in Manhattan auf. Wenn er an jenem Morgen nicht einfach fortgerannt wäre, hätte ich ihn ganz fest umarmt und ihm einen dicken Kuss gegeben, und ich hätte ihm ins Ohr geflüstert: »Es ist in Ordnung, Dad. Ich verstehe es.«
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Ich weine in meiner Dunkelkammer. Die Tränen fallen schneller, als ich sie fortwischen kann. Ich vermisse meinen Vater. Im Moment vermisse ich vieles, aber am meisten meine Zurechnungsfähigkeit.
Könnte ich ein jämmerlicheres Bild abgeben als jetzt?
Es ist spät. Mittlerweile habe ich es aufgegeben, Michael noch zu erreichen.
Doch in dem Wissen, dass mich dieser Traum - und Gott weiß, was sonst noch - am Morgen erwartet, greife ich nach den Bildern, die ich von Penley und Stephen vor dem Hotel geschossen habe.
Die wären gut für eine erstklassige Ausstellung.
Und sie reichen für einen Stimmungswandel. Als ich das erste Bild betrachte, genieße ich schon die Freude darauf, wie Michael in der Scheidungsverhandlung seinen Finger genau in diese Wunde bohrt. Ich bin schon so zappelig - oder gut gelaunt? -, dass ich anfange zu singen. »Penley und Stephen, tun sich ganz arg lieben! Sie küssen sich ganz hei-heimlich!«
Doch dieses Gefühl hält nicht lange an.
Ich blicke auf das durchscheinende Bild mit genau demselben Geistereffekt und gebe mich all meinem Glauben an mich selbst und an die echte Welt hin, wie ich sie bis vor einigen Tagen erlebt habe. Ich weiß, ich stand vor dem Falcon und beobachtete, wie die Rolltragen zum Rand des Bürgersteigs geschoben wurden, aber ich erkenne auch ein Muster, wenn ich eines sehe.
Zuerst Penley.
Dann Michael.
Jetzt Stephen.
Drei Leichensäcke und drei Personen. Ich muss nicht Einstein sein, um zu merken, dass noch ein Leichesack übrig ist.
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Als ich die Dunkelkammer verlasse, bemerke ich, dass eine Nachricht - nur eine - auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen wurde. Ich fürchte mich davor, sie abzuhören. Nein, ich bin wie versteinert, so dass ich die Taste nicht drücken und hören kann, was mir jemand zu sagen hat.
Und jetzt?
Wer könnte es sein? Wieder ein Anruf von Kristin Burns?
Ich hole eine kalte Flasche Wasser aus der Küche und leere sie in einem Zug. Wie habe ich mich in
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