Todesangst
Dort saß ein Pfleger, der ebenso vertieft las wie die Frau unten am Eingang.
Dr. Howard blickte schräg durch den Gang und konnte die Tür zum Schlafsaal ausmachen. An ihr fiel ihm ein großes Fenster mit Drahtglas auf. Nach einem weiteren vorsichtigen Blick zu dem Pfleger huschte er über den Gang und schlüpfte in den Schlafsaal hinein, wo ihn sogleich ein muffiger Geruch umfing. Nachdem er sich lauschend vergewissert hatte, daß er von dem Pfleger nicht bemerkt worden war, suchte er nach dem Lichtschalter. Selbst wenn das seine Entdeckung bedeutete, mußte er das Licht anmachen, um seinen Verdacht überprüfen zu können.
Der düstere Raum wurde plötzlich von kaltem, grellem Licht durchflutet. Er war an die zwanzig Meter lang; an jeder Seite waren niedrige eiserne Bettgestelle aufgereiht mit einem schmalen Gang dazwischen. Die Fenster lagen sehr hoch, fast schon unter der Decke. Am Ende des Raumes waren gekachelte Waschgelegenheiten mit einem aufgerollten Reinigungsschlauch zu sehen, daneben eine verriegelte Tür, die wohl zur Feuerleiter führte. Der Arzt ging den Mittelgang hinunter und las die Namensschilder, die an den Fußenden der Betten befestigt waren: Harrison, Lyons, Gessner… Die Kinder setzten sich auf, vom Licht aufgestört, und starrten mit großen, leeren, unwissenden Augen den Eindringling an.
Dieser blieb stehen, und ein Gefühl von Abscheu und Empörung, das sich zu Schrecken und Entsetzen steigerte, ergriff ihn. Das war ja noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Langsam wanderten seine Blicke von einem Gesicht dieser bedauernswerten, armen Geschöpfe zum nächsten. Das waren nicht die Gesichter von Kindern, die sie ja waren, sondern sie wirkten wie Gesichter kleiner Hundertjähriger, mit runzliger, trockener Haut, zwinkernden Knopfaugen und dünnem weißem Haar, durch das schon die Kopfhaut schimmerte. Dr. Howard suchte nach dem Namen Hayes. Auch dieser Junge wirkte, wie alle anderen, grauenhaft gealtert. Die Wimpern waren ihm größtenteils ausgefallen, die Unterlider hingen herab. Seine Pupillen waren wie Milchglas - Zeichen fortgeschrittensten Stars. Das Kind war so gut wie blind und konnte allenfalls noch starken Lichtschein wahrnehmen.
Einige der Kinder stiegen aus ihren Betten und standen wacklig auf ausgemergelten Beinen. Dann bewegten sie sich, zu Howards Entsetzen, auf ihn zu. Eines fing an, mit hoher, wimmernder Stimme »Bitte!« zu sagen, immer und immer wieder, und bald stimmten die anderen ein in einen schauerlichen, beklemmenden Chor.
Der Arzt wich schrittweise zurück voller Angst, sie könnten ihn berühren. Hayes’ Junge kletterte aus seinem Bett und tastete sich vorwärts, wobei seine knochigen Ärmchen hilf- und ziellos in der Luft herumfuhren.
Die Kindermeute drängte ihren Besucher gegen die Eingangstür zurück und zog ihn an den Kleidern. Erfüllt von Entsetzen, Widerwillen und Angst, floh Howard zur Tür hinaus. Als er sie hinter sich hastig zumachte, drängten sich die mumienhaften Gesichter der Kinder gegen die Glasscheibe, und er konnte erkennen, wie ihre Münder immer noch ihr »Bitte! Bitte!« formten.
»He, Sie!« ertönte da in seinem Rücken eine krächzende Stimme.
Als er den Kopf wandte, sah er den Pfleger vor dem verglasten Raum stehen und voller Verblüffung mit seinem Buch wedeln. »Was ist denn da los?« schrie der Mann ihm zu.
Der Arzt rannte durch den Gang hinaus ins Treppenhaus; doch kaum hatte er dort ein paar Stufen nach unten hinter sich gebracht, als auch schon eine zweite Stimme von unten herauf ertönte: »Kevin? Was gibt’s da oben?«
Howard warf einen Blick übers Geländer und sah den Wachmann auf dem ersten Treppenabsatz.
»Da soll mich doch der Teufel holen!« schrie der Mann und rannte, einen Knüppel in der Hand, die Treppe hoch.
Der Arzt wechselte die Richtung und kehrte in den zweiten Stock zurück. Dort im Gang stand immer noch der Pfleger in der Tür seines Zimmers, offenbar vor Verblüffung so erstarrt, daß er keine Bewegung machte, als Howard quer durch den Gang und wieder in den Schlafsaal rannte. Einige der Kinder liefen ziellos im Raum umher, andere hatten sich wieder auf ihre Betten fallen lassen. Der Arzt scheuchte fieberhaft alle auf die Türe zu und riß diese auf, und als der Pfleger und der Wachmann dort auftauchten, waren sie sofort von einem Schwarm von Jungen umringt.
Die beiden Männer versuchten sich durch das Gewühl zu kämpfen, doch die Kinder klammerten sich an sie und schrien wieder und
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