Todesangst
hatte dieselben spanisch wirkenden Gesichtszüge.
Dr. Howard war noch nie im städtischen Leichenschauhaus gewesen. Als sie die Leiche von Alvin Hayes durch zerkratzte und verbeulte Schwingtüren schoben und dann in den Aufbewahrungsraum kamen, wünschte er sich, daß er nicht gerade in einer solchen Situation erstmals das Haus kennengelernt hätte. Die Atmosphäre war genauso abstoßend, wie er sich das in seiner Phantasie ausgemalt hatte. In dem großen Aufbewahrungsraum sah man zu beiden Seiten quadratische Türen wie von Kühlschränken, die ehemals wohl weiß gewesen waren. Wände und Boden bestanden aus alten, fleckigen und zersprungenen Fliesen. Eine Reihe von Rollbahren standen herum, auf einigen davon lagen Leichen, mit Tüchern bedeckt, von denen wiederum einige blutbefleckt waren. Der Raum war von einem antiseptischen, an faulen Fisch erinnernden Geruch erfüllt, so daß Howard kaum zu atmen wagte. Ein untersetzter, kräftiger Mann mit Gummischürze und Handschuhen kam heran und griff mit zu, um die Leiche von Hayes auf eine der alten Rollbahren zu legen. Dann verschwanden alle, um sich um den notwendigen Papierkram zu kümmern.
Für einige Augenblicke blieb Dr. Howard in der Leichenhalle stehen und dachte über das plötzliche Ende von Hayes’ von Anerkennung begleitetem Leben nach. Dann folgte er, von der plötzlichen Erinnerung an seinen Weg ins Krankenhaus nach dem Tod von Danielle gepeinigt, den Sanitätern.
Als damals, vor gut einem halben Jahrhundert, das städtische Leichenschauhaus von Boston erbaut worden war, hatte es als hochmoderne Einrichtung gegolten. Während Jason Howard die breiten Stufen hinaufging, die zu den Büroräumen im ersten Stock führten, fielen ihm einige architektonische Details mit ägyptischen Motiven auf. Aber das Gebäude hatte unter dem Zahn der Zeit schwer gelitten; jetzt war es heruntergekommen, schmutzig und seiner Aufgabe nicht mehr angemessen. Es überstieg Howards Vorstellungskraft, was es wohl an Schrecklichem gesehen haben mochte.
In einem schäbigen Büroraum fand er die beiden Sanitäter und den untersetzten Mann wieder. Sie hatten die notwendigen Unterlagen ausgefüllt und unterschrieben und lachten jetzt fröhlich über irgend etwas, völlig unberührt von der bedrückenden Atmosphäre des Todes rings um sie.
Dr. Howard unterbrach ihre Unterhaltung mit der Frage, ob irgendeiner der für die Leichenschau zuständigen Ärzte im Augenblick da sei.
»Ja«, antwortete ihm der Leichenwärter, »Dr. Danforth muß sich im Autopsieraum gerade um einen dringenden Fall kümmern; sie wird wohl bald fertig sein.«
»Kann ich irgendwo auf sie warten?« fragte der Arzt; er war jetzt nicht in der Verfassung, zu ihr in den Autopsieraum zu gehen.
»Oben ist die Bibliothek«, sagte der Mann, »gleich rechts neben dem Büro von Frau Dr. Danforth.«
Die Bibliothek war ein dunkler, muffiger Raum mit in große Faszikel gebundenen Autopsieberichten, die bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichten. In der Mitte des Raumes stand ein mächtiger Eichentisch mit sechs hochlehnigen Armstühlen drum herum. Was aber wesentlicher war - es stand ein Telefon darauf. Nach kurzer Überlegung beschloß Dr. Howard, Shirley Montgomery anzurufen. Es war ihm bewußt, daß er sie mitten aus einem fröhlichen Abend reißen würde, aber er war auch überzeugt davon, daß er sie unterrichten müsse.
»Jason!« rief sie, als er sich meldete. »Kommen Sie doch noch vorbei?«
»Leider nein. Ich rufe Sie an, weil es gewisse… Schwierigkeiten gab.«
»Schwierigkeiten?«
»Es wird vielleicht ein Schock für Sie sein«, warnte er. »Es ist wohl besser, wenn Sie sich hinsetzen.«
»Na, jetzt hören Sie aber auf«, gab Shirley zurück, wobei sich jedoch etwas Besorgnis in ihre Stimme mischte.
»Alvin Hayes ist gestorben.«
Am anderen Ende gab es eine Pause, in die aus dem Hintergrund fröhliches, mit Lachen vermengtes Stimmengewirr drang, das so gar nicht zu dieser Situation passen wollte.
»Was ist geschehen?«
»Ich weiß es noch nicht so ganz genau«, sagte Howard, der sie vor den schrecklichen Einzelheiten abschirmen wollte. »Irgendwelche inneren Verletzungen.«
»Ein Herzanfall oder so?«
»Irgendwas in der Art«, antwortete er ausweichend.
»Mein Gott! Der arme Mensch.«
»Wissen Sie etwas über seine Angehörigen? Ich bin danach gefragt worden, konnte aber keine Auskunft geben.«
»Viel weiß ich auch nicht. Er ist geschieden und hat Kinder, doch ich glaube, sie wurden der
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