Todesangst
Immerhin wirkte das Gesicht des Mannes nun ruhig, und wie Shirley richtig bemerkt hatte, waren ihm weitere Schmerzen nun erspart geblieben. Im stillen entschuldigte sich Dr. Howard bei dem nun so schweigsamen Mann.
Er rief die diensthabende Telefonistin an und bat sie, die Einwilligung der Angehörigen für eine Obduktion zu veranlassen. Er erklärte ihr dabei, daß er vielleicht nicht erreichbar sei. Dann verließ er mit dem Gefühl, weitgehend nutzlos zu sein - wie bei all diesen Todesfällen -, die Klinik und fuhr in seine Wohnung zurück. Eine Zeitlang lag er noch wach und starrte zur Decke, beschäftigt mit dem Gedanken, ob er sich nicht vielleicht um einen Posten in der pharmazeutischen Industrie bewerben solle.
9
Cedric Harring, Brian Lennox, Holly Jennings, Gerald Farr und nun Matthew Cowen - niemals zuvor hatte Dr. Jason Howard innerhalb einer solch kurzen Zeit so viele Patienten durch den Tod verloren. Während der ganzen Nacht waren ihre Gesichter durch seine Träume gegeistert, und als er gegen elf aufwachte, fühlte er sich so erschöpft, als ob er überhaupt nicht geschlafen hätte. Mit Mühe raffte er sich dazu auf, seinen allsonntäglichen Zehnkilometerlauf zu machen, duschte anschließend und zog ein blaßgelbes Hemd mit weißem Kragen und Manschetten, dunkelbraune Hosen und eine zurückhaltend karierte bräunliche Jacke aus einem Mischgewebe aus Leinen und Seide an. Er war heilfroh über das Treffen mit Carol Donner, von dem er hoffte, daß es ihm eine gewisse Entspannung bringen würde.
Das Hampshire House lag, mit einem Blick auf den Bostoner Stadtpark, an der Beacon Street. Im Gegensatz zum Regen am Samstag lachte heute die Sonne vom Himmel, und nur ein paar leichte Wölkchen trieben darüber hin. Die amerikanische Flagge vor dem Eingang zum Hampshire House knatterte im Spätherbstwind. Dr. Howard war ein bißchen früher dran und bat um einen Tisch im großen Vorderzimmer im Erdgeschoß. Dort knisterte behaglich ein Feuer im Kamin, und ein Pianist ließ eine Folge bekannter älterer Melodien erklingen.
Dr. Howard ließ seinen Blick über die Leute ringsherum schweifen. Sie waren alle gepflegt gekleidet und in lebhafte Unterhaltung vertieft, und keiner machte sich offenbar Sorgen darüber, welch fürchterliche Krankheit derzeit vielleicht auf seine Stadt zukam… Dann riß er sich selbst am Riemen und ermahnte sich, seine Phantasie im Zaum zu halten. Ein halbes Dutzend ungeklärter Todesfälle - das war noch lange keine Epidemie. Obendrein konnte er noch keineswegs sicher sein, daß es sich hier um eine Infektionskrankheit handelte. Trotzdem vermochte er die Todesfälle nicht aus seinen Gedanken zu verbannen.
Carol Donner erschien nur fünf Minuten nach zwei, und der Arzt erhob sich, um sie durch Handbewegungen auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte sich mit einer weißen Seidenbluse und einer Hose aus schwarzem Wollstoff nett zurechtgemacht. Ihre jugendliche, natürliche und unschuldige Erscheinung außerhalb des Nachtclubs faszinierte Dr. Howard erneut. Sobald sie ihn bemerkt hatte, lächelte sie erfreut und bahnte sich ihren Weg zu seinem Tisch. Sie war ein klein wenig außer Atem.
»Entschuldigen Sie, ich bin ein bißchen zu spät«, sagte sie und brachte ihre Sachen unter, zu denen eine Wildlederjacke, eine Leinentasche voller Schriftkram und eine Unterarmtasche mit Umhängeriemen gehörten. Dabei warf sie immer wieder einen Blick zur Tür.
»Erwarten Sie noch jemanden?« fragte Dr. Howard.
»Ich hoffe eigentlich nicht. Aber ich habe einen Chef, der mir mit seiner beschützenden Art ein wenig auf die Nerven geht, besonders seit Alvins Tod. Er schickt mir immer jemanden hinterher, ich nehme an, zu meinem Schutz. Nachts ist mir das egal, aber tagsüber stört es mich. Dieser Muskelmann ist heute morgen schon wieder aufgetaucht, doch ich konnte ihn loswerden. Trotzdem ist er mir vielleicht gefolgt.«
Howard fragte sich, ob er seine Begegnung mit Bruno DeMarco erwähnen sollte, ließ es aber dann doch. Eine gewisse Spannung wich allerdings erst, nachdem sie bedient worden waren, ohne daß die bedrohliche Gestalt von Bruno DeMarco aufgetaucht war.
»Eigentlich sollte ich ja meinem Chef dankbar sein«, sagte Carol Donner. »Er kümmert sich wirklich rührend um mich. Zur Zeit wohne ich sogar in einer ihm gehörenden Wohnung in der Beacon Street und zahle nicht einmal Miete dafür.«
Dr. Howard wollte über die Gründe, die Carols Chef zu solcher Großzügigkeit
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