Todesblueten
sofort an und ich konnte sehen, dass der Junge auch etliches abbekam. Aber er ließ nicht locker und nach einer gefühlten Ewigkeit krachte es ziemlich laut und Leon hörte auf zu kämpfen. Er lag auf dem Boden, der Junge saß auf ihm und presste Leons Gesicht nach unten. Fast wie Leon vorher bei mir. Niemand hatte etwas gesagt, die ganze Zeit lang war nur Keuchen und Schnaufen zu hören gewesen.
»Da ist Draht in der Schublade.« Ich hielt meine verbundenen Handgelenke hinter mir hoch, so gut ich konnte, um dem Jungen zu zeigen, was ich meinte. Er sagte noch immer nichts, schob aber mit dem Ellbogen die offen stehende Schublade weiter auf, griffblitzschnell nach dem Drahtbündel und band Leon damit an das Tischbein. »Arschloch«, sagte er dann.
Leon ächzte leise.
Der Junge stand auf und ging zur Küche, griff nach einer Schere und einem der großen Messer, mit denen David vorgestern erst Gurken geschnitten hatte, und kam zurück.
Wollte er Leon abstechen? »Nicht«, sagte ich erschrocken, doch der Junge ignorierte Leon und kam auf mich zu. Was sollte das? Ich konnte nichts sagen, alles ging so schnell. Im Nu hatte er den Draht an meinem Handgelenk durchgeschnitten. »Mann«, sagte er dann endlich. »Was geht hier eigentlich ab?«
»Danke«, keuchte ich. Mir war immer noch schlecht vor Angst.
»Wer ist der Typ überhaupt? Wieso hat der dich gefesselt? Und wo sind deine Freunde?«
»Ich weiß nicht. Die sind alle weg. Das heißt, David, der liegt da hinten im Gras. Leon hat ihn zusammengeschlagen. Und Melanie ist weg. Die hat er . . .« Oh Gott, dachte ich. »Ich weiß nicht, was er mit ihr gemacht hat. Er verrät es nicht.«
Die blonde Freundin von David.
»Und ich glaube«, sagte ich, obwohl mir die Angst bald die Kehle zuschnürte, »ich glaube, er hat das blonde Mädchen getötet, das sie im Wasser gefunden haben.«
»Was?!« Der Junge riss entsetzt die Augen auf. »Welches Mädchen?«
»Na, die aus dem Kanal. Aus der Stadt!«
Er sah mich verständnislos an. Wusste nicht, wovon ich redete, hatte offenbar noch nicht mal was davon gehört. Mir fiel ein, dass ich ihn ja noch bis vor Kurzem selbst verdächtigt hatte. »Du bist doch mit ihr hier rumgelaufen!« Im gleichen Moment begriff ich, dass das völliger Unsinn war. Diese Information hatte ich lediglich von Leon bekommen. Und deshalb, so kapierte ich jetzt, hatte der Junge sich auch überhaupt nichts dabei gedacht, als er so plötzlich aus dem Wasser aufgetaucht war. Es sollte wirklich nur Spaß sein. Ich sah ihn stumm an.
»Der Typ ist ein Mörder?«
Ich zögerte kurz, nickte aber dann. »Ich bin mir ziemlich sicher. Und jetzt hat er Melanie irgendwohin geschafft.«
Der Junge biss sich auf die Lippe. »Shit, shit, shit«, fluchte er leise.
»Clara«, erklang es plötzlich von unten. Leon drehte seinen Kopf nach mir um. Er sah schrecklich aus, seine Wange war geschwollen und Blut lief ihm aus der Nase. Aber noch schrecklicher war sein widerlicher Gesichtsausdruck. Triumphierend. Es war nicht zu fassen. Leon gab noch lange nicht klein bei. »Du wirst dich doch nicht mit dem bösen Jungen einlassen? Der wollte dich ins Wasser zerren, schon vergessen?« Leon wieherte regelrecht.
»Halt die Fresse«, sagte der Junge. Er sah mich an. »Sorry, dass ich dich so erschreckt habe, aber . . .«
»Schon gut«, sagte ich hastig. »Hilf mir jetzt, das istwichtiger. Geht dein Handy? Wir müssen die Polizei anrufen.«
»Ich bin Bastian.« Er holte tief Luft und wisperte nur, damit Leon ihn nicht hörte. »Und ich hab kein Handy.«
»Was?«
»Ich hab kein Handy.«
Ich konnte es nicht glauben. Jeder hatte ein Handy! Wer kein Handy hatte, war nur ein halber Mensch. Und außerdem hatte Leon ihn trotzdem gehört.
»Der Bastian hat kein Handy.« Er lachte und spuckte etwas auf den Boden. »So ein Pech. Clara hat nämlich auch keins mehr.«
»Halt die Fresse«, sagte Bastian wieder und versetzte Leon einen Tritt. »Sonst schmeiß ich dich in den See, so wie du bist.«
»Ach ja?« Leon gab ein Geräusch von sich, das wie ein Glucksen klang. »Mach das mal. Dann findet ihr die Dicke nie.«
Das Pochen in meinem Kopf setzte wieder ein. Dieser verdammte Mistkerl hatte Melanie irgendwo versteckt. Und wenn er uns nicht freiwillig sagte, wo sie war, würden wir sie nie finden.
Bastian kniete sich plötzlich hin und zerrte an Leon. »Hat der ein Handy?«, fragte er mich.
»Ja. Er hat vorhin . . .« Ich brach ab. Natürlich hatte Leon nicht telefoniert. »Er hat
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