Todesblueten
Buchläden und das Internet voller solcher Sachen waren, doch jemanden zu treffen,der sich so etwas ausdachte, war schon noch etwas anderes. Jemand so Normales wie Leon, der selber eine kleine Tochter hatte. So eine niedliche, unschuldige Kleine mit Zöpfchen . . . Ich griff mir den Bilderrahmen und betrachtete das fröhliche Kindergesicht, in der Hoffnung, dass dadurch das eben Gelesene wieder aus meinem Kopf gelöscht wurde. Schockiert drehte ich das Bild hin und her und plötzlich rutschte es mir aus der Hand. Es knallte auf den Boden, das Glas zersplitterte. Verdammt! Starr vor Schreck saß ich da. Wie peinlich. Jetzt zertrümmerte ich Leon auch noch die Bude. Ich hob das Bild hoch, vielleicht war der Rahmen ja wenigstens noch ganz. Die Hinterseite aus Pappe war abgefallen und ich wollte sie gerade wieder festklemmen, als ich etwas bemerkte. Schrift. Gedrucktes aus einer Zeitschrift. Irgendwas von Erkältungsbädern. Auf der Rückseite des Fotos. Ein komisches Kribbeln setzte auf meinem Kopf ein. Ich griff nach dem Foto von Leons Tochter. Es war so dünn. Zu dünn. Dünn wie eine Seite aus einem Magazin. Ich hielt das Bild zwischen den Fingern und sah ungläubig darauf. Leons Tochter war tatsächlich aus einer Zeitschrift ausgeschnitten. Ich schluckte, mein Mund war ganz trocken.
Mechanisch griff ich nach dem zweiten Fotorahmen, dem mit dem Bild von Leons Frau. Leons Frau? Hastig löste ich das Bild aus dem Rahmen. Diesmal zitterte meine Hand. Genau dasselbe. Ein Bild, ausirgendeiner Zeitschrift ausgeschnitten.
Vogue
,
Elle
, irgendwas. Deswegen sah die Frau so gut aus. So perfekt. Was hatte das zu bedeuten? Ich versuchte, eine vernünftige Erklärung für die falschen Familienbilder zu finden, dabei wusste ich doch längst, dass es nur eine Erklärung dafür gab. Mein Verstand wollte sie nur nicht wahrhaben. Weigerte sich, das Offensichtliche zu glauben, denn das hieße ja . . .
Ein Rascheln erklang hinter mir. Das Bild flatterte mir aus den Fingern. Und plötzlich spürte ich, dass ich nicht mehr allein war.
Ich drehte mich um.
22.
Leon stand mitten im Raum, die Lippen zu einem leichten Grinsen verzogen. Wie war er so lautlos hereingekommen?
»Na?«, sagte er. »Gefallen sie dir?«
»Was?«, stotterte ich.
Er trat näher, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. »Die beiden auf den Fotos. Erst wollte ich ihnen ja noch Namen geben. Aber mir fiel kein passender ein. Clara gefällt mir gut. Vielleicht merke ich mir den für das nächste Mal.« Er lachte. »Auf jeden Fall nicht Melanie . . . Das ist vielleicht ein Scheißname. Passt zu der Dicken.«
In diesem Moment wusste ich, wie sich das berühmte Reh im Scheinwerferlicht fühlte. Erstarrt. Unfähig, sich zu bewegen. Voller Panik. Und voll dummer Hoffnung, dass alles irgendwie vorbeiging, wenn es nur still stehen blieb. Es musste sich genauso fühlen wie ich, hier in Leons Hausboot, mit dem Rücken zur Wand. Gefangen.
Meine Hand umklammerte ein Stück Rahmen. So fest, dass es wehtat. »Wo ist Melanie?«, flüsterte ich.
Leons Grinsen wurde breiter. »Das möchtest du gern wissen, was? Und vielleicht erfährst du es jaauch bald. Fleißig gesucht hast du ja. Mit deinem armen, kranken Fuß.« Er stand jetzt direkt vor mir, ich konnte das Grübchen auf der linken Wange sehen, das ich vor gefühlten tausend Jahren süß gefunden hatte, und blickte ihm direkt in seine dunklen, unbewegten Augen. Wie hatte ich die als warm und freundlich empfinden können? Mir wurde übel. »Tut es noch weh?« Er machte ein betrübtes Gesicht. »Ich wette, es tut noch weh, wenn man so richtig drauftritt.«
»Nicht«, presste ich heraus.
Und da stieß er mich plötzlich gegen die Wand, dass ich mit dem Hinterkopf dagegenknallte und mir sekundenlang ganz schwindlig wurde. Hände zerrten an mir und ich schlug blind mit dem albernen Bilderrahmen um mich, einmal traf ich aus Versehen mein eigenes Handgelenk, etwas ratschte, ich knickte mit den Knien ein, versuchte, meine kaputte Zehe trotz allem zu schützen, und schrie auf, als meine Arme plötzlich nach hinten gedrückt wurden. Er bricht mir den Arm, war alles, was ich denken konnte.
»Keine Zicken«, sagte Leon schnaufend. Er stand neben mir, ich konnte die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen sehen.
»Mein Arm«, schluchzte ich. »Du tust mir weh.«
»Echt?«, fragte Leon. »Und ich dachte, du bist hier die starke Indianerbraut, die nie heult.« Er hatte wieder diesen amüsierten Blick drauf, genau wie vorgestern
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