Todesbraut
für mich die Schönste unter der Sonne, meine Augen können nicht erwarten, dich zu sehen, wenn ich dein Gesicht von seinen Schleiern befreit habe.
Doch nun zu dem, was meine Familie hier in Istanbul für euch vorbereitet, denn es ist eine Freude, dass alles so kommen wird, wie mein Onkel, dein Vater und ich es bei unserem letzten Treffen besprochen haben. Am ersten Tag des Zuckerfestes treffen wir uns auf dem Platz vor der Sultan Ahmet Camii (Anmerkung Wasmuth: bei Touristen bekannter als Blaue Moschee). Es wird die größte
Hochzeit werden, die es in Istanbul je gab. So viele tausend Menschen, wenn wir uns das Jawort geben. Und Allah unser Zeuge ist.
Bis dahin freue ich mich über jede Stunde, die vergeht und uns einander näherbringt.
In freudiger Erwartung grüßt euer Neffe und Bräutigam
Rafet
Das darf doch nicht wahr sein. Das Zuckerfest ist übermorgen.
Dann also wird die Katastrophe passieren.
Und er steckt mittendrin.
15.
»Wie sehen Sie denn aus?« Boris Bellhorn blieb stehen, stellte seine Fahrradtasche auf den Boden des frisch gewischten Flurs und blickte verlegen durch die offene Tür, als habe er Wencke aus Versehen beim Auskleiden entdeckt.
Schutzlos fühlte sie sich tatsächlich. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit und Sorge, das rote Haar klebte auf der Stirn und die verschwitzte Uniform kratzte an allen erdenklichen Stellen. In diesem Zustand würde sie unter Karsten Völkers Hilfstrupp vom Hauptbahnhof überhaupt nicht auffallen.
Den Rest dieser entsetzlichen Nacht hatte Wencke hier in ihrem Büro verbracht, erst wartend vor dem Faxgerät, aus dem gegen fünf Uhr dann Wasmuths Übersetzung des Briefs gerauscht war. Schließlich hatte sie zwei Stühle zusammengeschoben, die Beine hochgelegt und sich den Kopf zermartert, wie die Dinge zusammenhingen, warum sie nicht auf die Lösung kam und was sie verdammt noch mal unternehmen sollte. Bis auf schmerzende Knochen und pochende Schläfen hatte es aber nichts gebracht. Und so sehr sie seit gestern Abend versuchthatte, jeden Gedanken an Emil möglichst weit, weit von sich wegzuschieben, um sich von ihrer Angst nicht überwältigen zu lassen, so kontinuierlich hatten diese Gedanken im Hintergrund wie Sägen an ihrer Verfassung gewirkt, hatten die Nerven dünner und dünner werden lassen, es fehlte nicht viel, und sie würden zerreißen.
»Kann ich Ihnen helfen?« Bellhorn blieb in der Tür stehen. »Stress mit der Kosian?«
»Guten Morgen, Boris«, antwortete diese statt Wencke und beugte sich vor, sodass Boris Bellhorn sie auf dem Stuhl gegenüber des Schreibtischs sitzen sehen konnte. Wenckes Vorgesetzte war schon seit einer halben Stunde im Dezernat, sie war gleich losgeeilt, als sie telefonisch von den Vorfällen der Nacht erfahren hatte. Trösten war zwar nicht gerade ihre Stärke, doch die Geschäftigkeit, mit der die Kosian dieses Defizit zu überspielen versuchte, war Wencke bei Weitem angenehmer, als bemitleidet zu werden. Kosian rutschte ein zynisches Lachen über die Lippen. »Stress mit der Kosian, den hatte unsere Kollegin Tydmers vielleicht bis gestern. Jetzt ist sie in größten Schwierigkeiten.«
»Was ist passiert?« Bellhorn wagte sich jetzt ganz herein, etwas schüchtern, wie es seine Art war, und setzte sich auf die Schreibtischkante.
»Mein Sohn Emil ist verschwunden. Seit vierzehn Stunden. Wir haben alles, aber auch alles versucht, ihn zu finden. Aber er ist weg.« Die Tränen, die Wencke über das Gesicht liefen, bemerkte sie kaum noch, während sie ihrem Kollegen mit zunehmend brüchiger Stimme erzählte, was seit seinem Feierabendgruß gestern Abend passiert war.
»Mein Gott. Und was jetzt?«, fragte Bellhorn, nachdem seine anfängliche Ungläubigkeit in Entsetzen umgeschlagen war.
Kosian übernahm für Wencke. »Die Kollegen von der Vermisstenabteilungtun selbstverständlich, was sie können. Sie stehen in Kontakt mit den Fluggesellschaften. Tatsächlich sind die Kinder Roza und Azad Talabani gestern Abend mit Turkish Airlines von Hannover nach Istanbul geflogen. Weitere Nachforschungen haben jedoch ergeben, dass Moah Talabani mit seiner Schwester einen Airberlin-Flug ab Hamburg genommen hat, ebenfalls in Begleitung eines Jungen namens Azad Talabani.«
»Wie bitte?«
»Es gibt dafür nur eine Erklärung: der Junge hat als gebürtiger Deutscher und Kind türkischstämmiger Eltern zwei Staatsangehörigkeiten. Also auch zwei Pässe. Und da die Flieger nahezu zeitgleich unterwegs waren und die Speicherung der
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