Todesbraut
unvollendete Naht. Die Bügelmaschine gab ein leises, zischendes Geräusch von sich, auch hier war keine Zeit gewesen, denAus-Knopf zu betätigen. Wie ausgefegt wirkten die Fächer der offen stehenden Kasse, weder Scheine noch Kleingeld lagen darin.
»Wencke, komm mal her«, rief Axel aus einem benachbarten Raum, in dem sich die große Wohnküche befand. Auf dem Tisch stapelten sich Papiere fast bis unter die Hängelampe. Einige waren in vergilbten Aktenordnern verstaut, andere schoben sich kreuz und quer und übereinander. Urkunden, Zeugnisse, Heirats- und Scheidungspapiere, Hausratsversicherungen – ein Sammelsurium wichtiger Unterlagen, aus denen offensichtlich das Notwendigste herausgesucht worden war. »Es fehlen die Pässe«, erkannte Wencke auf den zweiten Blick.
Axel bückte sich. »Nein, auf dem Boden liegt ein türkischer Pass.« Er schlug das noch recht unberührt wirkende Dokument mit dem Stern und der Mondsichel auf dem Kuvert auf. »Es ist der Ausweis von Roza.«. Das Foto im Inneren musste schon älter als drei Jahre sein, denn das Gesicht von Shirin Talabanis Tochter war noch ebenmäßig und makellos, es war das Porträt eines hübschen Teenagermädchens.
»Als Tochter türkischstämmiger Eltern wird sie zwei Ausweise haben, mit dem deutschen ist Roza dann wahrscheinlich gerade unterwegs.« Axel legte den Pass wieder zurück und durchwühlte die Blätterberge. »Aber den türkischen Pass ihres Bruders kann ich nicht entdecken. Den muss er mitgenommen haben.«
Plötzlich stockte er, zog eine Fotografie aus dem Stapel und hielt es näher an die Kerzenflamme. »Kein Zweifel, das ist der Knirps, der mir gesagt hat, dass Emil schon von seiner Mutter abgeholt worden sei.« Er reichte Wencke das Bild, es zeigte Azad, den kleinen Jungen mit den blauen Augen und borstenkurzem schwarzem Haar. Wieder erinnerte das Kindergesicht Wencke an ihren Sohn, aber dieses Mal war das Erkennen mit einem kurzen Stich in der Herzgegend verbunden. NebenAzad strahlte ein anderer Junge in die Kamera, um einiges älter. Den hatte sie auch schon einmal gesehen, Wencke versuchte sich zu konzentrieren, genau, bei ihrem ersten Besuch in dieser Wohnung hatte er ihr den Durchgang in das Hinterzimmer versperrt.
»Ein Cousin oder so. Das beweist zumindest schon mal, dass ich recht hatte und die ganze Familie mit drinsteckt.« Mit einer unwirschen Handbewegung stieß sie einen gesonderten Stapel über die Tischkante, ein Dutzend Hochzeitsmagazine glitten auf die Fliesen. Wencke hob die Zeitschriften auf, von den Titelseiten lächelten üppig verschleierte Bräute, die Ausgaben waren aktuell, alle in den letzten Monaten erschienen.
»Wollte Talabani wieder heiraten?«, fragte Axel.
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber vielleicht eine der Cousinen oder Tanten. Die Familie ist ja ziemlich groß …« Nun stockte Wencke. In ihren Händen lag ein Lieferschein, adressiert an Moah Talabani, es ging um ein Brautkleid Größe 36 mit Schleier, Diadem, Schuhen und Handschuh. »Roza!«, fiel es ihr ein.
»Wie alt ist das Mädchen noch mal?«
»Sechzehn …« Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht … »Jetzt verstehe ich. Die Kinder sollten nicht wegen dieses Zuckerfestes nach Istanbul fliegen, sondern weil eine Hochzeit anstand. Sechzehn ist bei den traditionsverbundenen Kurden ein durchaus normales Heiratsalter. Der Bräutigam ist wahrscheinlich ein Mann aus der Türkei, den Roza noch nie zuvor gesehen hat. Es ist genau wie bei ihrer Mutter, genau wie Shirin es damals erlebt hatte.«
Axel starrte sie an. »Du denkst, Shirin Talabani hatte die Hochzeit ihrer Tochter verhindern wollen, weil sie ihr dasselbe Schicksal ersparen wollte? Und deswegen musste sie sterben?«
Dachte Wencke das? »Es würde passen. Aber es würdenichts ändern. Als Täter käme dann immer noch an erster Stelle der Bruder – also Armanc Mêrdîn – infrage. Oder Moah Talabani, aber der hat ein Alibi, soweit ich weiß. Und es erklärt uns noch immer nicht, warum Shirin zumindest im Juni über so viel Geld verfügt hat, dass sie sich eine Reise auf die Malediven und einen gefüllten Kleiderschrank leisten konnte.«
»Gibt es bei den Türken nicht auch eine Art Mitgift? Vielleicht hat Shirin das Geld für die Aussteuer ihrer Tochter auf den Kopf gehauen. Um so die Hochzeit zu verhindern …«
»Die Talabanis waren keine reichen Leute. Immerhin geht es hier um einen fünfstelligen Betrag … Moment mal!« Wencke hielt ein aufgerissenes
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