Todesbrut
gegenüberliegenden Stalles, flogen in den Hof, auf die Terrasse des Wohnhauses oder setzten sich auf die Mauerbrüstung, als sei das eine für sie gemachte Hühnerstange.
Spöttisch zeigte Ubbo Jansen auf das herumirrende Federvieh: »Na, das muss für Sie doch ein großer Moment sein, Akki. Das haben Sie sich doch immer gewünscht, oder nicht? Die Hühner sind frei.«
Tim begann zu weinen.
»Wir müssen hier runter, bevor das Dach einstürzt«, sagte Josy klar und deutlich. Niemand widersprach.
75 Chris erreichte Benjo nicht mehr. Ihr Geliebter ging nicht ans Handy.
»The person you are calling is not available.«
Als sie die Tonbandstimme hörte, war ihr erster Gedanke: Er ist ertrunken. Aber das war nur ein Gedanke. Ihr Gefühl sagte ihr etwas anderes. Er lebte. Sie spürte es.
Vielleicht war einfach sein Akku leer, er hatte sein Handy verloren oder es war nass geworden. Nein, Benjo durfte nicht sterben. Er war die große Liebe ihres Lebens.
Aber wie sollte sie ihn finden? Wo war er?
Er wird irgendwo an Land gehen, dachte sie, und dann ist er auf meine Hilfe angewiesen.
Chris lief die zwei Kilometer bis zum Insel-Verkehrslandeplatz zu Fuß. Sie hatte sich so eine schnuckelige, kleine Landebahn vorgestellt, mehr Bushaltestelle als Flugplatz, wie sie es auf Juist kennengelernt hatte. Doch der Flugplatz Borkum hatte einst zum Lufthansa-Streckennetz gehört und war bedeutend größer. Es gab Nebengebäude, einen Tower, einen Hangar und ein geräumiges Vorfeld, auf dem Maschinen standen.
Hassan Schröder wartete schon bei der Cessna 172. Er sah Chris begehrlich an, sie das Flugzeug. Jetzt, da sie so nah an ihrem Ziel war, fragte sie sich, wie sie weiter vorgehen sollte. War es möglich, mit der Maschine zum Festland zu fliegen, dort einen Arzt überzeugen zu können, mitzukommen, und den dann zu Benjo zu bringen, wo immer er hier war? Oder machte es mehr Sinn, mit Benjo und den verletzten Kindern Borkum zu verlassen? Sie konnten von hier aus den Flugplatz Norden anfliegen, oder Helgoland oder auch Holland.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sah ins Glascockpit der Cessna. »Wie viele Leute können da mitfliegen?«
Hassan klopfte gegen die Maschine, als würde ein Reiter den Hals eines Pferdes berühren. »Die Skyhawk ist für vier Personen gebaut, einschließlich Pilot, versteht sich.« Dann verzog er fachmännisch den Mund und grinste überlegen. Etwas vom Glanz der Maschine fiel auf ihn ab. »Dann können wir allerdings nicht ganz so lange in der Luft bleiben. Je schwerer die Maschine beladen wird, umso geringer ist ihre Reichweite.«
»Was heißt das?«
»Vollgetankt können wir zwei gut vier Stunden in der Luft bleiben, je nachdem, wie die Windverhältnisse sind.«
»Wir kämen also bis Holland?«
»Problemlos«, sagte Hassan, hatte aber nicht vor, dorthin zu fliegen, denn er wusste nicht, wie er dort an eine Landegenehmigung kommen sollte. Ein kleiner Rundflug über die Insel wäre kein Problem, viel mehr war aber nicht drin. Doch das durfte er ihr nicht sagen, sonst hätte sie sich sofort einen anderen gesucht, das sah er ihr an. Sie brauchte ihn nur für ihre Zwecke. Sie war keineswegs seinetwegen hier. Sie meinte den Piloten, nicht den Mann.
Zunächst hörten sie die Stimmen, dann sah Hassan den Polizisten und kleine, heiße Fische schwammen durch seine Adern, während sich in seinem Magen Gletschereis ausbreitete. Er hatte ohne Fluglehrer hier nichts zu suchen und floh in Richtung Hangar. Chris folgte ihm.
Der uniformierte Polizist ließ sich von dem anderen herumkommandieren. Daraus folgerte Hassan Schröder, dass der wohl ein Hauptkommissar war und hier das Sagen hatte.
Hassan und Chris versteckten sich hinter einem hoch aufgeschichteten Stapel Frachtkisten. Von hier aus konnten sie hören, was die zwei Beamten besprachen.
»Klingeln Sie so viele Piloten aus dem Bett, wie Sie auftreiben können. Wir beschlagnahmen alle Maschinen hier und dann werden wir sie finden. So wahr ich Heinz Cremer heiße.«
Eigentlich hätte dieser Satz Chris glücklich machen müssen. Sie wollten die auf dem Meer Umhertreibenden suchen. Doch etwas lag in der Stimme des Mannes, was sie aufhorchen ließ. War er tatsächlich ein Kommissar? Gehörte er vielleicht zu den Leuten, die die Landung der Fähre verhindert hatten? Wen wollten die jetzt suchen und warum? Ging es hier um Rettung oder … Sie wagte gar nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, so ungeheuerlich war er.
Heinz Cremer hatte schon sein
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