Todesbrut
kann ich das Ruder vielleicht noch mal herumreißen.
Die Beretta hatte er inzwischen unter seinen Hintern geschoben. Noch war Rainer Kirsch nicht aufgefallen, dass seine Waffe fehlte. Er ging jetzt den Kapitän hart an:
»Wie viele Leute seid ihr an Bord? Wo sind die anderen? Wie kriegen wir die Maschinen wieder in Gang?«
»Indem Sie mich losmachen. Einen anderen Weg wird es nicht geben. Niemand ist in der Lage, dieses Schiff zu führen, auch Sie nicht. Nur ich bin es.«
Kirsch lachte schallend auf. »Ja, so sehen Sie auch aus.«
Er hatte es in den Bruce-Willis-Filmen gelernt: Ein einziger Mann reichte aus, um eine halbe Armee zu paralysieren. Einer, der unerkannt aus dem Hintergrund agierte und Sand ins Getriebe streute. Einer, der die empfindlichen Stellen kannte, der wusste, wie man die Maschinen abschaltete. Und so einen musste es auch hier geben. Garantiert hatte er auch Kontakt nach außen und informierte die Küstenwache über die genaue Situation.
Rainer Kirsch war sich nicht sicher, auf wessen Seite die Küstenwache stehen würde.
»Für das, was Sie hier tun, werden Sie sich bald alle vor Gericht verantworten müssen«, drohte der Kapitän. »Sie können jederzeit von der Tat zurücktreten und vernünftig werden. Wir können das alles hier vergessen, wenn Sie jetzt …«
Rainer Kirsch packte den Kopf des Kapitäns und drückte seine Finger wie Krallen tief in die Haut. »Wie heißt euer U-Boot? Wer von deinen Leuten sabotiert uns hier? Sag es, verdammt noch mal! Auch er hat den Willen der Allgemeinheit zu respektieren!«
Ole Ost hatte das Gefühl, sein Schädel müsse zerplatzen.
Rainer Kirsch bog den Kopf zur Seite, bis sein Gefangener umfiel. Dabei rutschte die Beretta unter dessen Hintern hervor.
Kirsch nahm seine Pistole. Er kam sich dumm vor, weil ihm dieser Fehler passiert war. Das steigerte seine Wut noch einmal und er richtete die Waffe gegen die Stirn des Kapitäns.
»Pfeif euren Typen zurück! Pfeif ihn zurück oder ich leg dich um!«
»Sie sind ein junger Mann. Wollen Sie Ihr weiteres Leben wirklich mit einem Mord belasten? Sie machen doch alles nur noch schlimmer.«
Die Fähre begann zu schaukeln und zu trudeln. In seiner Wut bemerkte Rainer Kirsch das nicht einmal. Ihm wurde klar, dass der Kapitän nicht um sein eigenes Leben fürchtete. Er flehte nicht für sich um Gnade – so wie er sich vorher schon für Poppinga eingesetzt hatte.
Kurz entschlossen richtete Rainer Kirsch die Waffe auf Fokko Poppinga. Er sah nicht mal richtig hin. Mit ausgestrecktem Arm bedrohte er ihn.
»Los, sag es. Sag es oder ich knall ihn ab!«
Kirsch hoffte, dass der Kapitän den Bluff für Ernst nehmen würde. Und tatsächlich sah er eine Verunsicherung in dessen Gesicht.
Ole Ost richtete sich auf, zog die Beine an und schluckte. Das Kreuz aus 18-karätigem Weißgold an seinem Hals glänzte plötzlich so sehr, dass Pittkowski zurückwich wie vor einer unheimlichen Erscheinung.
»Sie werden nicht schießen«, sagte Ole Ost. Er fixierte Rainer Kirsch, in der Hoffnung, ihn besänftigen zu können. »Sie sind ein guter Kerl. Ich seh so was auf den ersten Blick. Ich weiß, Sie meinen es nur gut. Sie sind keiner von den Bösen. Aber manchmal gebiert das Gute, das wir mit aller Kraft durchsetzen wollen, etwas Böses. Glauben Sie mir, junger Mann, der Zweck heiligt nicht die Mittel.«
Rainer Kirsch trat von einem Fuß auf den anderen. Nervös zuckte die Waffe in seinen Fingern. Er bekam schwitzige Hände.
Henning Schumann sah, wie verunsichert Kirsch war. Er wollte ihn unterstützen, eine Hand auf seine Schulter legen … aber das Schiff schwankte. Die Nordsee spielte mit ihnen.
Die Berührung an der Schulter ließ Rainer Kirsch zusammenzucken, als sei er an ein Stromkabel geraten. Seine Rechte krampfte sich unwillkürlich um die Beretta. Dabei löste er den Schuss aus.
Der Schrei von Fokko Poppinga teilte Rainer Kirschs Leben ab jetzt in zwei messerscharf voneinander getrennte Hälften: die Zeit davor und die Zeit danach. Er war sich dessen augenblicklich bewusst.
Kirsch ließ die Waffe fallen und starrte Poppinga an. Auf dessen Hemd breitete sich ein roter Fleck aus.
Pittkowski floh aus dem Raum.
Der Kapitän schrie etwas, doch der laute Knall, der Nachhall des Schusses, machte die Menschen für einen Moment taub, sodass es aussah, als ob er seinen Mund wie ein stummer Fisch öffnete und wieder schloss.
»Der … der hat mich geschubst!«, rief Rainer Kirsch endlich weinerlich, fast wie ein Kind.
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