Todesbrut
nichts!«
»Oh, auf einmal so tierlieb geworden?«, ätzte Tim aus seinem Rollstuhl und bewegte sich näher zur Fernbedienung. Er hatte Lust, in die Legebatterien umzuschalten. Das gute Verhältnis, das Josy plötzlich zu seinem Vater entwickelte, nervte ihn. Er war fast eifersüchtig darauf, wie sehr sie sich um ihn kümmerte.
So ähnlich, dachte er, muss Kira sich gefühlt haben, wenn es immer um mich ging, weil ich Probleme hatte und sie ja die Tolle war, bei der immer alles glattging.
Wenn ich auch so eine schöne Verletzung im Gesicht hätte, würde Josy mich jetzt verarzten.
Er schaltete andere Bilder auf die Monitore. »Schau mal, so tierlieb ist er normalerweise.«
Ubbo Jansen brauste auf: »Lass das! Ich will wieder die Außenanlagen sehen! Schalte sofort zurück!«
»Wieso? Stehst du nicht zu dem, was du tust?«
»Ich brauche mich für das da nicht zu schämen. Aber ich will jetzt, verdammt noch mal, die Situation draußen sehen, auf den Bildschirmen! Und außerdem, nur, um es mal wieder zu sagen: Die Kleingruppenhaltung hat eine niedrige Umweltbelastung, ein niedriges Infektionsrisiko und eine hohe Produktivität. Und darüber hinaus liegen wir hier mit dieser Anlage in allen Parametern besser als die EU-Norm. Wir haben 900 Quadratzentimeter Fläche.«
»Ja, für zehn Legehennen!«
»Bitte, hört auf zu streiten. Meine Hände zittern sowieso schon«, sagte Josy. »Ich könnte jetzt einen Schnaps vertragen.«
Tim rang um die Handlungsführung. Endlich hatte er die rettende Idee.
»Ich kenne den Vater von Thorsten, den Herrn Gärtner von der Versicherung. Der ist doch ein ganz vernünftiger Mann. Ich ruf ihn an; der wird seinen Sohn zurückpfeifen.«
»Ja, und sag ihm, wenn er es nicht tut, mache ich es.«
Musst du dich immer so aufspielen?, dachte Tim. Kannst du mir nicht mal diesen Trumpf überlassen? Kannst du überhaupt nicht verstehen, dass ich vor Josy gut dastehen möchte?
Tim hatte die Nummer von Herrn Gärtner sogar in seinem Handy gespeichert, allerdings nur den Dienstapparat.
45 Diplom-Betriebswirt Gesundheitsmanagement Niklas Gärtner wollte gerade Feierabend machen und räumte seinen Schreibtisch auf. Er hasste es, am anderen Morgen einen unordentlichen Arbeitsplatz vorzufinden. Er liebte die blanke Platte. Der neue Tag wartete garantiert mit genügend Aufgaben auf, da musste man sich morgens nicht gleich mit Sachen vom vorhergehenden belasten.
»Steh sicher auf dem, was du geschafft hast«, war sein Leitspruch, »es hilft dir, das zu schaffen, was vor dir liegt.«
Mit dieser Auffassung, immer und in jedem Fall korrekt zu arbeiten, stand er bei seiner Krankenkasse, die sich neuerdings Gesundheitskasse nannte, ziemlich allein da. Deswegen behaupteten manche Kollegen von ihm, er sei noch »alte Schule«. Einige sprachen das mit Respekt aus, andere mit Spott, so als könne nur ein völlig vertrottelter Idiot zur alten Schule zählen.
Niklas Gärtner hatte auf seinem Computerbildschirm ständig ein Nachrichtenlaufband und die Börsenkurse. Normalerweise kontrollierte er mindestens einmal pro Stunde mit einem kurzen Blick aufs Börsenbarometer den Stand seines Vermögens. Er machte keine riskanten Aktiengeschäfte, dazu reichte sein Gehalt nicht aus, aber er hatte in solide DAX-Werte investiert. In Versicherungen natürlich, in die großen Stromversorger und in Pharmawerte.
Die kürzliche Schweinegrippewelle hatte seinem Aktiendepot gutgetan, weil seine Pharmawerte durch die Decke schossen, während die Stromanbieter trotz ständig steigender Preise weiterhin im unteren Bereich dümpelten und bei der Performance der Pharmaindustrie nicht mithalten konnten. Doch heute hatte er öfter auf das Nachrichtenlaufband geschaut als auf die Börsenkurse. Es war schon ein komisches Gefühl, hier in diesem Büro in Emden zu sitzen, mit dem Wissen, dass draußen die Stadt abgeriegelt wurde.
Seine Mitarbeiterin, Kollegin Klimmek, hatte sich mit der Begründung abgemeldet, sie müsse sich um ihre Kinder kümmern, und Paul Göhre, seit fast zehn Jahren in seinem Büro, war bei diesen deprimierenden Nachrichten einfach völlig energielos geworden und in seinem Weltschmerz versunken. Er glaubte, den Beginn einer erneuten Depression zu erkennen, und er versuchte, dem drohenden Niedergang zu Hause mit einem Bier vor dem Fernseher zu entgehen.
Das Telefon klingelte. Niklas Gärtner überlegte einen Moment, ob er noch drangehen sollte, dann entschied er sich, dies sei der letzte Anruf für heute,
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