Todesbrut
muss das Schiff losmachen und uns vor Angreifern verteidigen«, rief Margit, doch ihr Mann schien eine Art Blackout zu haben. Er sagte nichts und er rührte sich auch nicht.
Benjamin wollte nicht länger warten. Er beugte sich zu Dennis. Der Junge schlang die Arme um seinen Hals und biss die Zähne zusammen, als er ihn hochhob. Der Körper des Jungen zuckte unter einem Schmerzgewitter zusammen.
Vor vielen Jahren hatte Benjo sich im Skiurlaub das rechte Bein gebrochen. Er erinnerte sich noch gut an die durchdringenden Schmerzen, die er bei jeder Bewegung hatte. Selbst als sein Bett durch den blank gebohnerten Krankenhausflur geschoben wurde, tat es so weh, dass er ins Kopfkissen biss, obwohl er im Gegensatz zu Dennis damals schmerzstillende Medikamente bekommen hatte.
Als er mit dem Jungen auf dem Arm an Kai Rose vorbeiging, sagte Dennis nur leise: »Papa?«, und holte ihn damit zurück ins Geschehen.
»Geben Sie ihn mir«, sagte Kai so sachlich und ruhig, dass Benjo Hoffnung schöpfte, sich vielleicht doch noch auf ihn verlassen zu können. Bei dem, was ihnen jetzt bevorstand, war jede mögliche Unterstützung unverzichtbar.
Er riss die Tür auf. Zu seiner Überraschung stand niemand davor, der versucht hätte, sie an einer Flucht zu hindern. Die zwei Wachen, die dort zurückgelassen worden waren, hatten ihren Posten aufgegeben und tranken mit den Exfunkenmariechen soeben den zweiten doppelten Doornkaat.
Ein Herr mit grau melierten Haaren und ausgeprägtem Pferdegebiss suchte den Fahrstand und sprach ausgerechnet Benjo an. Er behauptete, dort gebraucht zu werden. Benjo kam gar nicht auf die Idee, dass es sich bei dem Mann um einen Arzt handeln könnte, denn von einem Arzt hätte er erwartet, dass er sich um die beiden verletzten Kinder kümmerte. Aber der Mensch mit dem Pferdegebiss hatte ein ehrliches Gesicht.
Benjo tat so, als hätte er die Frage gar nicht verstanden, und bat stattdessen: »Bitte helfen Sie mir! Ich muss ein Rettungsboot zu Wasser lassen.«
»Ein Rettungsboot? Sinken wir?«
55 »Entwaffnet den Mann!«, rief Henning Schumann und es klang wie der Befehl eines empörten Unteroffiziers, der den kriegsverbrecherischen General an weiteren Schandtaten hindern will.
»Mich rührt keiner an!«, drohte Rainer Kirsch und unterstrich seine Worte, indem er die Beretta jetzt in beide Hände nahm. Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, um nicht von hinten angegriffen zu werden. Er spürte die Glasscheibe kühl im Nacken.
Frau Schwann, die diese konfliktgeladene Situation nicht aushalten konnte und befürchtete, dass ihr Mann gleich dem Befehl von Henning Schumann nachkommen könnte und tatsächlich versuchen würde, Kirsch zu entwaffnen, hoffte, zur Entspannung beizutragen, indem sie vortrat und mit süßer Stimme flötete: »Händigen Sie mir die Pistole aus, Herr Kirsch. Ich werde sie für Sie aufbewahren, bis wir irgendwo landen. Dann gebe ich sie Ihnen zurück.«
Kirsch reagierte nicht auf ihre Worte, sondern sah sich mit hektischen Blicken im Raum um. Er erwartete, angegriffen zu werden, allerdings am wenigsten von Henning Schumann. Er hoffte, irgendeinen Bündnispartner zu finden, sah sich aber auf einsamem Posten, was seine Angst und Aggressivität steigerte.
Frau Schwann kam näher. Mehrere Passagiere hatten sich vor dem Fahrstand versammelt, unter ihnen auch Pittkowski. Wie Mais aus einem heißen Topf quollen sie plötzlich in den Raum. Es wurden immer mehr.
»Da unten lassen welche ein Rettungsboot ins Wasser«, rief Pittkowski und sah Schwann an, den er offensichtlich unter völliger Fehleinschätzung für den Chef im Ring hielt.
Scharf forderte Henning noch einmal: »Entwaffnet den Mann!«, und zeigte auf Rainer Kirsch, ganz so, als hätte man versehentlich irgendjemand anderen im Raum entwaffnen können.
Ein Damenfriseur aus Essen mit blauem Gürtel im Judo, der es leid war, wegen seiner stylischen Frisuren, seines Berufs und seiner eleganten Körperbewegungen für schwul gehalten zu werden, packte zu. Der Angriff kam ansatzlos, direkt und sehr effektiv.
Noch bevor er begriff, was geschehen war, spürte Kirsch einen heftigen Schmerz im Handgelenk und in den Fingern. Er musste die Waffe fallen lassen. Ihm blieb gar keine andere Wahl. Dann klatschte sein Gesicht gegen die Glasscheibe. Er sah die Möwen draußen. Sie schnatterten, als ob sie ihn auslachen würden.
Der Friseur wollte Henning Schumann die Waffe aushändigen. Der nahm sie nicht sofort an, sondern zögerte.
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