Todesbrut
seine Haare, seine dick verbundene Hand ruhte auf dem Tisch. Sie hatte die Idee, je höher die Hand lag, umso niedriger der Blutverlust, denn rein physikalisch war es für das Blut sicherlich schwieriger, nach oben zu fließen als nach unten. Mit links kraulte sie ihn, mit rechts hielt sie seine verletzte Hand in der Stellung auf dem Tisch fest. Er selbst schnarchte.
»Haut ab! Die sind alle infiziert! Wir müssen uns ein eigenes Rettungsboot holen! Steigt bloß nicht zu den Kranken ins Boot!«, schrie Antje den ihr entgegenkommenden Schwimmern zu, dann schluckte sie durch eine Nordseewelle eine Menge Wasser. Sie spürte, es war einfacher gewesen, zum Rettungsboot rauszuschwimmen als gegen die Wellen zur Ostfriesland III zurück.
Kai Rose ruderte erst seit wenigen Minuten, doch seine Muskeln brannten schon und sein Rücken schmerzte von den heftigen Bewegungen. Er drehte sich um und stellte beruhigt fest, dass die Ostfriesland III in der Entfernung schon viel kleiner geworden war. Der größtmögliche Abstand zu dem Schiff und den Menschen darauf gab ihm neue Hoffnung und Sicherheit.
Jetzt erreichte Josef Flow das Rettungsboot. Benjo hielt ihm die Hand hin und machte mit ihm erneut den Versuch, eine weitere Person an Bord zu holen. Doch Kai Rose passte das überhaupt nicht. Er nahm sein Ruder und schlug damit nach Benjo.
»Äi, spinnst du?«
Und an Josef Flow gewandt: »Wir sind krank, das haben Sie doch gehört. Verziehen Sie sich!« Er schwang das Ruder nun auch gegen ihn.
»Nehmen Sie mich mit! Was soll das?«, japste Flow. Der ehemalige Sportlehrer war noch ziemlich fit und wich dem Schlag nach ihm aus. Als das Ruder ein zweites Mal in seine Richtung schwang, packte er zu und zog heftig.
Kai Rose taumelte. Er fiel ins Wasser und Josef Flow kletterte an Bord.
»Bitte, tun Sie uns nichts«, sagte Margit Rose und drückte das Gesicht ihrer Tochter gegen die Brust, als wolle sie ihr den schrecklichen Anblick ersparen. Doch da war nichts Schreckliches, sondern nur ein nasser, pensionierter Sportlehrer.
Kai Roses rechte Hand krampfte sich am Boot fest. In ihm tobte unbändiger Hass.
Das Boot war jetzt sehr ungleichmäßig belastet und neigte sich bedenklich zu der Seite, an der Kai Rose ins Trockene zurückkletterte. Benjo lehnte sich gegenüber weit hinaus aus dem Boot, um ein Gegengewicht zu schaffen.
Dennis rollte aus seiner Position und krachte gegen die Bootswand. Er stöhnte vor Schmerzen laut auf.
»Wir brauchen Ruhe«, rief Benjo. »Wir müssen das Boot so ruhig wie möglich halten. Für den Jungen ist es eine Tortur, mit seinem gebrochenen Fuß. Dem tut jede Welle weh. Jetzt nimmt jeder seinen Platz ein und dann versuchen wir, so sanft wie möglich überzusetzen.«
Aber Kai Rose interessierten Benjamins Worte nicht. Er zog das Ruder ins Boot zurück. Dann holte er aus, um damit auf Flows Kopf zu schlagen. Flow riss beide Arme hoch und wehrte das Holz knapp ab.
»Was soll das? Machen Sie kein Theater! Das Boot ist groß genug! Wir können noch mehr Menschen mitnehmen. Sie werden einen guten Ruderer brauchen, bis wir drüben sind. Unterschätzen Sie das nicht. Es sind ein paar Kilometer, bei heftigem Wellengang. Die Fähre braucht zweieinhalb bis drei Stunden für die Strecke und wir haben keinen Motor.«
»Verschwinden Sie! Ich will mit meiner Familie hier an Bord sein! Allein! Ich will keine anderen Menschen!«
Oh, dachte Benjo, er will mit seiner Familie allein hier sein. Geht das jetzt auch gegen mich?
Josef Flow zeigte seine offenen Handflächen vor. Er spürte, dass er dort, wo das Ruder auf seine Unterarme getroffen war, blaue Flecken bekommen würde.
Margit Rose mischte sich nicht ein. Sie entschloss sich, einfach ihre Tochter auf dem Arm zu halten und sicher an Land zu bringen. Und wenn es das Letzte war, was sie in diesem Leben tat.
Die Angst, das Kind könne in ihren Armen sterben, überkam sie plötzlich und sie begann, hemmungslos zu weinen. Ihre Tränen tropften in die Haare ihrer Tochter. So gerne hätte sie alles rückgängig gemacht, die letzten Jahre, den vielen Gin, all die Affären, all die verlorene Zeit, in der sie sich besser um ihre Kinder gekümmert hätte, statt vernebelt durch die Welt zu laufen. Sie bereute das alles so sehr und sie hätte sich am liebsten bei Viola entschuldigt.
Sie registrierte, dass ihre Gefühle für die ohnmächtige Viola viel heftiger waren als die für ihren Sohn Dennis. Der Junge war ja voll bei Bewusstsein, doch sie schaffte es nicht, sich
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